Kommentar zur Debattenkultur

Warum Skeptiker und Kritiker keine "Leugner" sind

04:36 Minuten
Plakate auf einer Kundgebung 2022 von Reichsbürgern, Corona-Leugnern, Impfgegnern und anderen in Nürnberg
Plakate auf einer Kundgebung 2022 von Reichsbürgern, Corona-Leugner, Impfgegnern und anderen in Nürnberg © IMAGO / ZUMA Wire / Sachelle Babbar
Ein Standpunkt von Hans-Martin Schönherr-Mann |
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Der "Leugner" ist seit der Corona-Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung ein verbohrter Wissenschaftsfeind, beim Thema Klimawandel ist es ähnlich. Doch das wird jenen, die den Stand der Wissenschaft in Frage stellen, nicht gerecht.
"Ich bin ein Payback-Leugner!" hielt ich dem Supermarktkassierer entgegen, der mich jedes Mal beim Einkaufen fragte, ob ich eine solche Karte will. Es war nicht ganz das passende Wort, erreichte aber, dass ich irgendwann nicht mehr gefragt wurde.
Das konnte nur klappen, weil das Wort heute eine inflationäre Verbreitung hat – und eine mächtige Waffe im öffentlichen Diskurs geworden ist. Wer in der Pandemiezeit die Coronamaßnahmen ablehnte, galt schnell als „Corona-Leugner“, und in der Klimadebatte werden gern sogenannte „Klima-Leugner“ identifiziert und stigmatisiert.

Anfällig für Verschwörungstheorien

Der „Leugner“ – das ist eine verbohrte, zu Verschwörungstheorien neigende Figur, die sich durch Fakten nicht beeindrucken lässt. In die öffentliche Diskussion gekommen ist der aufgeladene Leugnerbegriff aber durch einen anderen „Leugner“.
Durch den Auschwitz-Leugner erhielt das an sich harmlose Wort vor einem guten halben Jahrhundert eine neue Bedeutung. Dabei ging es nicht nur um die historischen Fakten, die durch unzählige Zeugenaussagen, Dokumente und historische Orte belegt sind. Den Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas oder den Sinti und Roma als Lüge zu deklarieren, ist angesichts des historischen Materials unhaltbar.

Warum das Verbot der Auschwitz-Lüge richtig ist

Aber bei dem deutschen Verbot der Auschwitz-Lüge, ein Gesetz, das der Bundestag am 25. April 1985 verabschiedete, ging es vor allem auch um den Schutz der Opfer und ihrer Nachfahren. Wer in Frage stellt, dass es den Holocaust gegeben hat, beleidigt die, die in diesem Holocaust nicht selten ihre ganze Familie verloren haben. Das kann gerade das Land der Täter nicht zulassen. Deswegen war und ist das Verbot der Auschwitz-Lüge richtig, auch wenn es die Meinungsfreiheit einschränkt. Beleidigungen sind nicht durch Meinungsfreiheit gedeckt.
Im Fall von Corona- oder Klima-Leugnern lautet der Vorwurf heute, sie würden wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Auf den ersten Blick scheint das dem Holocaust-Leugner nahe zu kommen, der die historischen Fakten nicht akzeptiert.
Doch zwischen historischen Tatsachen und naturwissenschaftlichen bzw. medizinischen Erkenntnissen besteht ein gravierender Unterschied. Die Geschichte ist das, was geschehen ist, und wird durch Berichte und Dokumente belegt. Natürlich sind auch historische Erkenntnisse relativ, sofern sie geschichtswissenschaftliche Interpretationen enthalten - und müssen insofern auch hinterfragt werden dürfen. Nur muss jede Hinterfragung zumindest gute Gründe geltend machen.
Medizinische Forschung stellt zwar auch Tatsachen fest – das Coronavirus, zum Beispiel, existiert natürlich, es lässt sich mit einem Elektronenmikroskop anschauen. Aber wie man Covid behandelt oder welche Maßnahmen vor Ansteckung schützen, diese Erkenntnisse beruhen auf Experimenten, gesammelten Daten und Theorien und werden permanenter Revision unterzogen, sonst gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt.

Naturwissenschaftliches Wissen ist zeitabhängig

So ist jedes naturwissenschaftliche Wissen zeitabhängig. Wird man in 500 Jahren auf die heutigen Naturwissenschaften ähnlich blicken, wie man heute auf das Naturwissen des Mittelalters herabsieht? Deshalb sollte man nicht jemandem vorwerfen, er leugne naturwissenschaftliche Einsichten. Der Vorteil moderner Wissenschaften gegenüber der mittelalterlichen Theologie ist ja gerade, dass man sie in Frage stellen kann.
Wer Skeptiker oder Kritiker als Leugner bezeichnet, der schadet insofern den Wissenschaften, die sich dem Widerspruch auch von jenen aussetzen müssen, die keine Experten sind. 

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Essayist und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm: „Hannah Arendt. Vom gefährlichen Denken“ sowie „Max Weber – Denken in einer entzauberten Welt".

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