Kampf um Anerkennung

Ein unbeugsamer Holocaust-Überlebender in Warschau

Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9.11.2018 besuchte Marian Kalwary den Deutschen Bundestag. Ein alter Mann steht vor einer Steinwand, auf der Wörter in kyrillische Schrift stehen.
Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9.11.2018 besuchte Marian Kalwary den Deutschen Bundestag. © Christoph Löffler
Martin Sander · 08.04.2020
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Marian Kalwary überlebte den Holocaust in Polen und kämpfte nach dem Krieg für Gerechtigkeit. Was er zu erzählen hat, ist vor allem eine bittere Geschichte darüber, wie man mit den Opfern der NS-Verbrechen nach 1945 umgegangen ist. Bis heute.
Das Haus des jüdischen Gemeindeverbands steht in der Twarda-Straße, im Zentrum von Warschau. Hier hat Marian Kalwary sein Büro. Meist sitzt er am Telefon, denn die Menschen, die er berät, sind nicht mehr gut zu Fuß. Marian Kalwary, Jahrgang 1930, pensionierter Kameramann, arbeitet ehrenamtlich als Vorsitzender des Verbands der jüdischen Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs:
"Die Existenzfragen sind wichtig. Ich befasse mich nicht mit irgendwelchen Feierlichkeiten, Ordensverleihungen oder Akademien, sondern mit den konkreten existentiellen Sorgen der Menschen, für die ich zuständig bin."
Vor allem engagiert sich Marian Kalwary für die Anerkennung von Rentenansprüchen überlebender Juden und Roma, hilft mit seinen Computer- und Sprachkenntnissen beim Ausfüllen von Formularen, beim Einreichen von Widersprüchen.
Er selbst musste als Kind im Warschauer Ghetto leben und floh, kurz bevor die Deutschen im Juli 1942 mit den Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka begannen.
"Meine Mutter, die bereits mit falschen Papieren auf der arischen Seite lebte, holte mich aus dem Ghetto heraus. Ich kam dann in ein anderes kleineres Ghetto nach Wołomin in die Nähe von Warschau. Dort war mein Vater. Zwei Monate später sollte dieses Ghetto aufgelöst, die Juden ins Vernichtungslager gebracht werden. Da versuchte mein Vater, aus diesem Ghetto zu fliehen. Doch auf seiner Flucht wurde er gleich von Polen als Jude erkannt. Sie nahmen ihm alle Wertsachen ab, die er bei sich hatte. Die Deutschen haben ihn vermutlich kurz darauf umgebracht. Ein Bekannter hat ihn noch lebend getroffen und uns später davon erzählt."

Überleben mit falschen Papieren

Marian Kalwary überlebte zusammen mit seiner Mutter in einer von den deutschen Besatzern errichteten Eisenbahnersiedlung, mit falschen polnischen Papieren – bis zur Befreiung.
"Heute setzt man das Wort ´Befreiung` in Anführungszeichen. Das ist die Sprachregelung unserer nationalkonservativen Machthaber. Aber uns Juden, die wir uns verstecken mussten, uns hat die Rote Armee tatsächlich befreit."
Nach Kriegsende engagierte sich Marian Kalwary für eine neue, gerechtere Gesellschaft – wie viele jüngere überlebende Juden. In den neuen kommunistischen Machthabern sahen sie einen Schutz. Bedroht fühlten sie sich von antikommunistischen nationalistischen Untergrundkämpfern. Deren Verhältnis zu den Juden war während des Holocausts ambivalent. Einige Untergrundkämpfer mordeten Juden auch nach Kriegsende und überfielen sogar jüdische Kinderheime.
"Ich lebte auch einige Jahre in so einem Heim. Nachts hielten wir Wache, aus Sorge vor Angriffen. Wir hatten unsere eigene, bewaffnete Selbstverteidigung."
Marian Kalwary wurde bald Mitglied der Kommunistischen Partei. 1953 warf man ihn im Zuge einer von Stalin initiierten antisemitischen Kampagne hinaus. Seither ist er parteilos, doch der Grundidee von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit hat er sich bis heute verschrieben. Seit vielen Jahren kämpft er dafür, dass Deutschland Rentenansprüche von überlebenden Juden und Roma anerkennt.


Es ist schwierig. Zwar hat der Bundestag 2002 das sogenannte Ghetto-Renten-Gesetz verabschiedet, das im Prinzip jedem Opfer eine Rente aus Deutschland verspricht. Doch die Auszahlung der Renten nach Polen suchten deutsche Behörden und Gerichte lange zu verhindern. Berüchtigt ist ein Aktenvermerk des ehemaligen Finanzministers Peer Steinbrück, man solle die Zahlung restriktiv handhaben. Wenn heute die meisten Überlebenden in Polen dennoch eine deutsche Rente erhalten, ist das der Hartnäckigkeit von Marian Kalwary und seinen Mitstreitern zu verdanken. Zu ihnen gehört der Berliner Jurist Kamil Majchrzak, Gründer der Initiative "Ghetto-Renten-Gerechtigkeit Jetzt":
"Für mich war es ein sehr berührendes Erlebnis, mit Marian Kalwary zusammenzuarbeiten. Er hat das Warschauer Ghetto erlebt, ist aus ihm geflohen, musste sich verstecken und kämpft bis heute unbeirrt für ausgegrenzte Menschen, deren Rechte man missachtet, denen man eigentlich die Gleichberechtigung aberkennt."
Marian Kalwary in seinem Büro in Warschau.
Marian Kalwary in seinem Büro in Warschau: "Ich befasse mich mit den konkreten existentiellen Sorgen der Menschen."© Christoph Löffler

Deutschland verweigert weiterhin Entschädigung

Immer noch gibt es Überlebende in Polen, denen Deutschland Entschädigung verweigert. Marian Kalawary erzählt davon sachlich und gelassen. Doch mitunter kann er sich eine Portion Sarkasmus nicht verkneifen.
"Es gibt eine Gruppe von Juden, die man nicht direkt Opfer des Holocaust nennen kann. Denn sie sind nach dem Überfall der Deutschen 1939 auf sowjetisches Gebiet geflohen. Ein großer Teil von ihnen wollte die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht annehmen und wurde dafür nach Sibirien verbannt. Andere erklärten sich zu Sowjetbürgern und landeten in Kasachstan. Manche kamen auch in Straflager.
Die Überlebenden, vor allem die damals jüngeren, kehrten bei Kriegsende nach Polen zurück. Aber ihr Eigentum war fort, sie wurden ausgeraubt, viele von ihnen getötet. Die deutschen Behörden behandeln sie so, als wären sie zwischenzeitlich zur Kur in der Sowjetunion am Schwarzen Meer gewesen und dann auf ihre Gutshöfe zurückgekehrt. Deutschland behauptet nun, sie seien Opfer der Sowjetunion. Unsinn, absoluter Unsinn. Sie sind doch nicht vor der Sowjetunion geflohen, sondern vor den Deutschen."

"Dahinter steckt Missachtung und Rassismus"

Bis heute verhindert Deutschland, dass diesen Opfern der Vernichtungspolitik Wiedergutmachung geleistet wird. Das offenbart den doppelten Boden der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung. Demutsbekundungen von Politikern stehen auf der einen, die hartleibige Abwehr von Opferansprüchen durch die deutsche Bürokratie auf der anderen Seite. Für Kamil Majchrzak hat das Gründe:
"Das Leben von Marian Kalwary und sein hartnäckiges Engagement – gegen all diese Widerstände – zeigen uns, wie schwierig es ist, Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus zu überwinden. Jetzt, nach dem NSU-Komplex, dem Mord an Walter Lübke, nach Chemnitz, Halle und Hanau, wird deutlich, dass wir nicht die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben. Und das hat auch etwas mit der missglückten Entschädigungspolitik für die Opfer des Zweiten Weltkriegs zu tun. Denn auch dahinter steckt Missachtung, Rassismus…"
In Warschau kämpft Marian Kalwary unbeirrt weiter.
"In Deutschland hat die Rechte wieder ihren Kopf erhoben. Das ist natürlich eine fatale Geschichte. Aber ich habe davor keine Angst. Ich bin 90 Jahre alt. Und da mache ich mir eigentlich keine Sorgen mehr."
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