Afghanistan, Türkei, China, Ukraine

Wie der "Krieg gegen den Terror" missbraucht wird

22:53 Minuten
Eine Rauchwolke steigt aus dem getroffenen World Trade Center auf.
Der nach 9/11 begonnene "Krieg gegen den Terror" hat Auswirkungen bis heute. Autokraten wie Vladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder Xi Jinping nutzen den Terrorbegriff für ihre Zwecke. © Getty Images / Robert Giroux
Von Silke Diettrich, Isabel Gotovac, Mareike Ohlberg, Isabella Kolar · 07.03.2022
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Terrorismus ist zum Kampfbegriff geworden. Seit dem 11. September 2001 dient er als Rechtfertigung für den Krieg der Mächtigen gegen die, die ihnen missfallen. Beispiele: Türkei, China, Ukraine. Scheitern inklusive, wie Afghanistan zeigt.
9/11 - Terroristen greifen die Weltmacht USA an. Im vergangenen Jahr haben sich die Anschläge des Terrornetzwerks Al-Kaida zum 20. Mal gejährt, die Anlass für den Angriff auf das von den islamistischen Taliban beherrschte Land Afghanistan waren. US-Präsident George W. Bush erklärte den "Krieg gegen den Terror" - mit Auswirkungen bis heute.

Islamisches Emirat reloaded

Auswirkungen, die am Beispiel Afghanistans gut sichtbar sind. Denn seit September letzten Jahres ist das Land erneut ein Islamisches Emirat. Die Taliban regieren hier jetzt wieder - nach dem chaotischen Abzug der NATO und ihrer Verbündeten aus Kabul.
Ein bewaffneter Talibankämpfer schaut in die Kamera, während hinter ihm verschleierte Frauen an einer Essensausgabe anstehen.
Minister, deren Namen auf US-Terrorlisten stehen - nach der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan stehen die USA und ihre Verbündeten vor der Frage, ob man mit ihnen verhandeln sollte.© AFP / Hector Retamal
Und der Westen debattiert nun darüber, ob man mit Terroristen verhandeln kann oder soll. Denn: Minister der Taliban-Regierung stehen auf Terrorlisten der USA. Außerdem haben sie beste - auch verwandschaftliche - Beziehungen zu Al-Kaida. Und es gibt sogar Hinweise, sagt der britisch-pakistanische Journalist und Autor Ahmed Rashid, dass Teile der Taliban mit dem regionalen Ableger des sogenannten Islamischen Staates ISIS-K zusammenarbeiten.

Kooperieren mit Terroristen?

Doch innerhalb der Taliban existieren ganz unterschiedliche Lager: Die, die mit den USA und westlichen Diplomaten in Katars Hauptstadt Doha verhandelt haben, und die, die sehr viel radikaler agieren. Was ist die Konsequenz für den Umgang mit ihnen?

"Es geht vor allem darum, die afghanische Bevölkerung, die in großen Teilen Hunger leidet, nicht im Stich zu lassen."

Der norwegische Regierungschef Jonas Gahr Støre

Hilfsgelder an Forderungen knüpfen - das gilt als Option für die Diplomatie. Erste Hoffnungsschimmer gibt es: Gerade haben die staatlichen Universitäten Afghanistans wieder geöffnet. Auch Frauen dürfen dort studieren.
Fazit unserer Afghanistan-Korrespondentin Silke Diettrich: "Auch wenn die Taliban nun keine Anschläge mehr verüben, regieren sie in ihrem neuen 'Islamischen Emirat' mit harter Hand und schüchtern die Bevölkerung ein."

Journalist oder Student - Erdoğans Terroristen

Terrorismus zu bekämpfen ist für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein wichtiges Instrument der Kontrolle. Wer in seinen Augen ein Terrorist ist, läuft schnell Gefahr, im Gefängnis zu landen und dort auf sich lange hinziehende Prozesse zu warten, an deren Ende oft ein Schuldspruch verbunden mit einer Haftstrafe steht.
Die Terror-Gefahr geht für Erdoğan zum Beispiel von protestierenden Studierenden der Bosporus-Universität in Istanbul aus oder auch vom Islamischen Staat, der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK oder der Bewegung des einstigen Erdoğan-Freundes und Predigers Fethullah Gülen.
Porträt von Recep Tayyip Erdogan, der während einer Pressekonferenz in Tirana spricht.
Wichtiges Instrument der Kontrolle - der inflationäre Terrorbegriff von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kann in der Türkei jeden treffen, dessen Denken und Handeln nicht auf Regierungslinie liegt. © AFP / Gent Shkullaku
Der Terrorismus-Begriff Erdoğans, der sich vom Angriffskrieg seines russischen Kollegen Wladimir Putin gegen die Ukraine distanziert, hat sich mit den Jahren inflationär entwickelt. Besonders im Fokus waren anfangs Journalist:innen. Beliebter Vorwurf: Terror-Propaganda. Der wurde zügig auch auf andere Berufsgruppen ausgedehnt.

Anti-Terror-Gesetz als Instrument der Willkür

Dabei hilft der regierenden AKP das Anti-Terror-Gesetz, das sie nach ihrer Regierungsübernahme radikal geändert hat. Damit sei die Willkür der türkischen Justiz "außer Kontrolle" geraten, urteilt Aydın Engin.

"Das Anti-Terror-Gesetz ist eine Waffe in den Händen der türkischen Regierung."

Journalist Aydın Engin, der schon sieben Mal unter Terrorverdacht in der Türkei im Gefängnis saß.

Das bekommt derzeit auch der türkische Kulturförderer Osman Kavala zu spüren. Seit mehr als vier Jahren sitzt der 64-Jährige im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri am Rande Istanbuls - weggesperrt ohne eine Verurteilung wegen Terror-Vorwürfen.
Laut Aydın Engin hat die Verfolgung von Menschen in der Türkei aufgrund eines Terrorismusverdachts wenig zu tun mit dem, was die Allgemeinheit unter einem Terroristen versteht:

"Der Terrorismusbegriff wird immer weiter ausgedehnt werden - eine Wende kann nur eine neue Regierung bringen."

Aydın Engin

Fazit unserer Türkei-Korrespondentin Isabel Gotovac: "Selbst hinter dem Verfall der Lira wittert der türkische Staatspräsident 'Wirtschaftsterroristen'. Der 'Kampf gegen den Terror' dominiert die öffentliche Debatte in der Türkei."

Chinas "prorussische Neutralität" in der Ukraine

Offiziell ist China neutral gegenüber Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem Krieg des russischen Präsidenten Putin gegen die "terroristische Regierung" in Kiew, bezieht nicht Partei. Aber:

"Wenn man sich anschaut, was in chinesischen Medien zensiert wird und was nicht, dann sieht man sehr schnell, dass nur prorussische Beiträge erlaubt werden. Einige anderslautende Stellungnahmen von Professoren sind ganz schnell wieder aus dem Internet verschwunden."

Mareike Ohlberg, Senior Fellow im Asien Programm des German Marshall Fund

Die chinesische Regierung weise in ihren Stellungnahmen immer darauf hin, dass Russland legitime Interessen habe, sagt die Sinologin Mareike Ohlberg, die sich seit fast 20 Jahren mit China beschäftigt.
Wladimir Putin und Xi Jinping posieren vor russischen und chinesischen Flaggen und schauen einander an.
Spezialisten im Antiterrorkampf: Vladimir Putin, Präsident Russlands und Xi Jinping, Staats- und Parteichef Chinas. © picture alliance / Associated Press / Alexei Druzhinin
China sei auch der Ansicht, dass das eigentlich große Problem die NATO sei. Offiziell sei das Land neutral, aber inoffiziell positioniere man sich relativ stark auf Russlands Seite.

Kampf gegen den Terror als Geschenk für China

Die chinesische Regierung hat den Kampf der USA gegen den Terror nach den Anschlägen von 9/11 genutzt, um eigene Konflikte in Minderheitenregionen im eigenen Land umzudefinieren. So wurden zum Beispiel ethnische und andere Auseinandersetzungen, die man vorher noch heruntergespielt hatte, plötzlich zum Teil des Kampfes gegen den Terror.

"'Wir in China haben auch ein riesiges Terrorismusproblem. Wir müssen uns hier auch mit organisiertem Terrorismus auseinandersetzen'. Dieses Narrativ nutzte die chinesische Regierung, um stärkere repressivere Maßnahmen in Minderheitenregionen in China einzuführen."

Mareike Ohlberg

Terrorismus in China werde immer als Dreierpack definiert, sagt Ohlberg: Terrorismus, Separatismus und Extremismus. So wolle man alle Versuche eigener Identität in Minderheitengebieten kriminalisieren und als Teil des Terrors darstellen.
Durch geleakte Dokumente wisse man, dass diese Politik von ganz oben gemacht, gewollt und von Staats- und Parteichef Xi Jinping auch so vorgegeben werde.
Porträt eines älteren Uiguren mit einem langen, weißen Bart und einer bestickten Kopfbedeckung.
Lagerhaft, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen - die Menschenrechtslage in Chinas Uiguren-Provinz Xinjiang ist prekär. Peking wirft uigurischen Gruppen Terrorismus vor.© Getty Images / Enrico Gaoni
Die Diskussion im Westen im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen in Peking entzündete sich vor allem auch am Schicksal der muslimischen Bevölkerungsgruppe der etwa zehn Millionen Uiguren in der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas.

Uiguren, Hongkong und Tibet

Peking wirft uigurischen Gruppen und auch anderen ethnischen Minderheiten wie beispielsweise den Kasachen Terrorismus vor. Betroffen von diesem Vorwurf sind in Teilen auch Tibet sowie die Protestierenden in Hongkong.
Inhaltlich könne damit alles Mögliche gemeint sein, sagt Mareike Ohlberg. Der Begriff des Terrorismus werde sehr breit verwendet:

Wenn man einen zu langen Bart hat. Wenn man ein Kopftuch trägt. Wenn man kein Schweinefleisch isst. Wenn man keinen Alkohol trinkt - dann kann das alles unter dem Begriff des Terrorismus gegen die Menschen verwendet werden.

Mareike Ohlberg

Betroffen vom Extremismus- beziehungsweise Terrorismusvorwurf können in China alle Aspekte der eigenen ethnischen, religiösen oder sprachlichen Identität sein. Mit Folgen, wie man am leidvollen Schicksal der Uiguren beobachten kann.
(ik)
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