Insekt des Jahres 2022

Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege

06:45 Minuten
Eine Kamelhalsfliege sitzt auf einem Blatt.
Ein "lebendes Fossil": die Kamelhalsfliege gab es bereits vor 66 Millionen Jahren. © imago images / blickwinkel / S. Derder
Von Susanne Billig |
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Sie sieht aus wie ein Mini-Kamel mit Flügeln, jedenfalls für Menschen mit viel Fantasie: die Kamelhalsfliege. Schon zu Dinosaurierzeiten hat es sie gegeben, trotzdem kennt sie kaum jemand. Auch deswegen wurde sie zum Insekt des Jahres 2022 gekürt.
Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege lebt im Wald, hoch oben in den Baumwipfeln, verborgen vor dem Auge des Menschen. Wer ihr einmal begegnet, erkennt sie sofort – kein anderes Insekt sieht ihr auch nur annähernd ähnlich. Dunkelrote Beinchen, durchsichtige Flügel mit schwarzen Adern, eineinhalb Zentimeter von den Fühlern bis zur Flügelspitze – und dann ist da dieser lange, schwarz-glänzende, gebogene Hals mit dem abgeknickten Kopf. Ja, mit etwas Fantasie sieht sie wirklich aus wie ein kleines Kamel.
Sie ist Insekt des Jahres 2022. „Das soll natürlich einer breiten Öffentlichkeit zeigen, wie spannend Insekten sind“, sagt Professor Thomas Schmitt. Er ist Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts, von Kindesbeinen an leidenschaftlicher Insektenforscher und Vorsitzender der Insekten-Jury.
Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege hätten sie zum Insekt des Jahres gekürt, um zu zeigen, „wie vielfältig Insekten sind“. Eine etwas ausgefallene Insekten-Gruppe, „die nicht viele Leute bisher kennen“, sagt Schmitt.

Da kommt so ein Tierchen, das sieht aus wie ein kleines geflügeltes Mini-Kamel. Das ist einfach etwas, da geht einem Insektenforscher doch immer wieder das Herz auf.

Thomas Schmitt, Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts

Mit ihren Mundwerkzeugen raspelt die Kamelhalsfliege Blatt- und Schildläuse, aber auch schädliche Borkenkäferlarven und die Eier von Apfelwicklern von den Blättern der Bäume – macht sich also im Sinne des Menschen nützlich.
Nur selten, wenn der Wind sie hochhebt und vom Standort fortträgt, besiedelt sie neue Lebensräume. Ansonsten hüpft und flattert sie in ihrem kleinen Lebensraum mehr so umher. "Wenn man das Tier sieht, würde man sagen: Mit solchen Flügeln muss man ja wirklich toll fliegen können“, sagt Thomas Schmitt. „Aber die Flügel und die ganze Muskulatur, die diese Flügel steuert, sind nicht dafür geeignet, dass man hohe Geschwindigkeiten über lange Strecken zurücklegen kann."

Die Kamelhalsfliege, ein lebendes Fossil

Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege ist in Mitteleuropa zu Hause, mit hartem Frost kommt sie nicht klar, braucht aber einen Kälteeinbruch im Winter, sonst entwickeln sich die Larven nicht. Alles das erklärt sich aus einer spannenden Evolutionsgeschichte: Kamelhalsfliegen – und zwar unzählige Arten und Exemplare – flatterten schon über diesen Planeten, als noch die Dinosaurier lebten, vor 66 Millionen Jahren.
Dann donnerte der Meteorit auf die Erde. "Mit dem Verschwinden der Dinosaurier ist auch die Mehrzahl der Kamelhalsfliegen ausgestorben“, erzählt Schmitt. „Nur solche Arten, die wirklich mit kalten Winterbedingungen zurechtkommen, konnten damals wohl überleben – und das zeigt sich bis heute." Darum gilt die Kamelhalsfliege als „lebendes Fossil“. Weltweit gibt es nur noch 250 Arten. Ein Klacks, verglichen mit über einer Viertelmillion Käferarten.
Dennoch gibt es hier und da sogar regelrechte Kamelhalsfliegen-Hotspots, zum Beispiel in Österreich. "So gibt es zum Beispiel in Wien eine verkehrsumtoste kleine Waldinsel.“ Obwohl diese mitten in der Stadt liege und der Verkehr dort herumrausche, gebe es dort eine „schöne Population“ von zwei Kamelhalsfliegenarten.
Weltweit einmalig ist auch ein jahrhundertealter, denkmalgeschützter Bauernhof in Oberösterreich auf 800 Metern Höhe. Während der Paarungszeit geht es unter dem bemoosten, strohgedeckten Dach in Sachen Kamelhalsfliegen-Sex hoch her, „sodass es dort eine der weltweit größten Kamelhalsfliegenpopulationen auf kleinstem Raum gibt“. Jedes Jahr gebe es dort „ein Massenauftreten. Das ist eine weltweite Besonderheit, die wir eben im Mühlviertel an einer einzigen Stelle finden. Das ist schon faszinierend."

Ein mehrjähriges Larvenleben

Ansonsten sieht es mit dem Sex bei Kamelhalsfliegen mau aus – einmal im Leben, das war es. Andere Insekten schaffen mehrere Generationen im Jahr. Dafür schenkt die Natur dem ungewöhnlichen Tierchen ein mehrjähriges Larvenleben. Denn obgleich sie als lebendes Fossil gilt, zeigt sich die Kamelhalsfliege in dieser Hinsicht modern: Anders als die Ur-Insekten der Vordinosaurier-Zeiten durchläuft sie eine vollständige Verwandlung mit Larve, Puppenstadium und erwachsener Fliege. "Und die Puppe wird am Ende ihrer Puppenzeit beweglich“, erläutert Schmitt. „Das ist einzigartig im Insektenreich. Das heißt, die Puppe kann dann durch die Gegend laufen!"
In locker-lichten, artenreichen Waldrändern fühlt sich die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege am wohlsten – dort, wo der Wald sanft in die offene Landschaft übergeht, und die Natur am besten ungestört vor sich hinleben kann. Doch genau solche Lebensräume gibt es kaum noch, denn Land- und Forstwirte grenzen ihre Besitztümer viel zu scharf voneinander ab. Hier müsste die EU-Agrarpolitik aktiv werden und Lebensräume schützen, die ökonomisch wenig profitabel sind, aber vielen Arten eine Heimat bieten – und auch für den Menschen zu den schönsten und erholsamsten Landschaften gehören. Insektenforscher Schmitt jedenfalls wünscht der Kamelhalsfliege und all den anderen Insekten, „dass sie immer mehr Freunde finden und wieder mehr in Deutschland, in Europa und in der Welt leben können".
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