Kai Marchal: "Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist"

Wie Chinesen denken

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"Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist" von Kai Marchal
"Rettungslos verquatscht": Unser Kritiker findet das neue Buch von Kai Marchal nicht empfehlenswert. © Verlag Matthes & Seitz/imago/Xinhua
Von Marko Martin · 16.05.2019
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Der Philosoph Kai Marchal vermischt Familiengeschichten, Restaurantbesuche und Reiseerfahrungen und versucht so, dem "chinesischen Denken" näher zu kommen. Die spannende Grundidee des Buches verliert sich leider im überquellenden Klein-Klein.
Was ist chinesisches Denken – und wie ließe es sich in einer Begrifflichkeit beschreiben, die es nicht verfälscht und dennoch unserer westliches Vokabular benutzt? Man muss profunde Kenntnisse über sein Forschungs-Sujet und ein Grundvertrauen in den Kommunikationscharakter der Sprache haben, um sich an ein solches Unterfangen zu wagen.
Kai Marchal besitzt dieses mit Furchtlosigkeit verbundene Expertenwissen: 1974 in Wilhelmshaven geboren, lebt er seit langem in Taiwans Hauptstadt Taipeh und lehrt an der dortigen Universität Philosophie; seine Texte veröffentlicht er auf deutsch, englisch und chinesisch.
"Vielleicht musste ich, um China zu verstehen, erst einmal den Gedanken loswerden, ich könnte etwas in Besitz nehmen, ein verborgenes Zentrum, das sich mir entzieht." Nicht intellektuelle Übergriffigkeit, sondern Annäherung als Stil- und Erkenntnisprinzip. Und die Entdeckung, wie ein schier grenzenloser geografischer Raum ein Denken prägt, das den horror vacui sowohl fürchtet wie auch umkreist – in Reflexionen, die daoistische Poesie sein können, aber auch Anleitungen im Sinne konfuzianischer Staatsphilosophie.

Der westliche Blick auf China ist voller Projektionen

Freiheit vor allem im Metaphysischen, während in der politischen Sphäre Stabilität zu herrschen habe – erklärbar aus den traumatisierenden Jahrtausend-Erfahrungen immer wieder zerbrochener Reiche und innerchinesischer Bürgerkriege. Es spricht für Kai Marchal, dass er aus dieser Prägung keine Apologie der gegenwärtigen chinesischen Parteidiktatur macht, die in einem Mix aus Dao, Mao, Konfuzius, Digitalisierung und Straflager eine Art neo-autoritäres Modell zu basteln trachtet.
Besonders spannend ist Marchals Blick auf westliche China-Perspektiven, die oft voll abstruser Projektionen sind. "Meine Erfahrung belegt, dass sich gerade die radikalsten, wohl auch wirrköpfigsten Individualisten gern in einer Art Sino-Nietzscheanismus wiedererkennen."
Marchal lässt seine Leser deshalb am eigenen Entwicklungsweg teilhaben, weshalb sein Buch (Genre "erzählendes Sachbuch") wohl auch der Versuch eines "Porträts des Philosophen als junger Mann" ist. Die lebensweltlichen Einsprengsel erfreuen zunächst, die Beschreibung erster Liebesbeziehungen mit nicht-deutschen Frauen macht den Prozess erkenntnisfördender Selbstdistanz sinnfällig, und dennoch: Wie rettungslos verquatscht das schließlich alles wird.

Vermischung wie im Zettelkasten

Familiengeschichten, Restaurantbesuche, Reisen und die Erinnerung an bestimmte Chart-Hits vermischen sich alsbald auf durchaus unelegante Zettelkasten-Weise, so dass man dem allzu gesprächigen Autor wünscht, als Stilübung vielleicht einmal Siegfried Kracauer, Stephan Wackwitz (oder Victor Segalen und Michel Leiris) zu lesen. Unverständlich auch, weshalb der im erz-demokratischen Taiwan lehrende Experte nicht die Chance genutzt hat, aus seiner Alltagserfahrung etwas ganz Entscheidendes zu filtern:
Auch "chinesisches Denken" ist von Rahmenbedingungen abhängig und wird demzufolge in der diktatorischen Volksrepublik kollektivistisch buchstabiert, während es im winzigen Taiwan einen überproportional weiten Reflexionsraum haben kann. Kein fernöstliches, sondern ein Berliner Rätsel indessen, wie Verlag und Lektorat zulassen konnten, dass aus dem spannenden Kern dieses Buches ein derart überquellendes Etwas werden konnte.

Kai Marchal: "Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens"
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019
352 Seiten, 28 Euro

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