Julian Hans: "Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen"

Ein düsteres Porträt

Julian Hans: "Kinder der Gewalt"
© Beck Verlag
Julian Hans: "Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen"Beck Verlag, München 2024

254 Seiten

18,00 Euro

Von Holger Heimann · 18.02.2024
Julian Hans blickt auf Phänomene und Entwicklungen der russischen Gesellschaft, die gerade durch die Kriminalfälle grell beleuchtet werden und scharf konturiert hervortreten. Gewalt gehört zum Alltag.
Am 4. November 2010 werden zwölf Menschen, unter ihnen vier Kinder, in einer Kleinstadt im Süden Russlands ermordet. Der Hausherr, ein erfolgreicher Agrarunternehmer, muss mit ansehen, wie seine nächsten Angehörigen und Freunde getötet werden, dann wird auch er mit einem Küchenmesser erstochen. Zuletzt übergießen die Täter die Leichen mit Benzin und zünden sie an. Es ist eines der brutalsten Verbrechen in der Geschichte des Landes. Und es wäre womöglich wie viele andere Gewalttaten nie aufgeklärt worden, wenn nicht zufällig ein Fernsehteam im Ort gewesen wäre, um Aufnahmen für eine Show zu machen. Die Bewohner wissen sofort, wer die Täter sind, doch sie schweigen – wie gewöhnlich. Nun aber kommen immer mehr Journalisten. Was durch deren Recherchen an die Öffentlichkeit gelangt, sind die mafiösen Praktiken einer Bande, die das Städtchen seit zwanzig Jahren terrorisiert und beherrscht.
„Sie raubt den Bauern ihr Land, missbraucht die Mädchen, kauft die Polizisten. Gegner werden getötet, Hilferufe nicht gehört. Die Anführer des Clans sitzen als Abgeordnete im Parlament, ihre Firmen erhalten Millionen aus der Staatskasse.“

Willkür und Erniedrigung

Der Fall der Zapok-Bande ist eines von fünf Verbrechen, auf die der Autor in seinem Buch schaut. Julian Hans rückt dabei jedoch nicht die Taten in den Fokus, sondern die Reaktionen der Menschen auf die Verbrechen. Ihn interessiert, wie sich Willkür und Erniedrigung auf eine Gesellschaft auswirken, wie eine Atmosphäre von Schweigen und Angst das Zusammenleben der Menschen vergiftet. Die im ganzen Land diskutierten Verbrechen können, so glaubt der Autor, Aufschluss geben über die russische Wirklichkeit.
„Ich habe in der langen Zeit, die ich mich mit Russland beschäftige, immer mal wieder gedacht, dass in Kriminalfällen, in Verbrechen ganz viel steckt, was wir über das Land lernen können. Häufig funktioniert unser politisches Vokabular nicht, um Russland zu beschreiben. Wenn wir von Regierung und Opposition und Parlament sprechen, sind das dort andere Dinge. Schon früher habe ich häufig gedacht, dass in der russischen Politik das Vokabular aus dem kriminellen Bereich passender wäre. Und das zum Verständnis des Regimes es auch wichtig ist, eine gewisse kriminelle Kultur in Russland zu verstehen, wo das herkommt, mit welchen Codes da gearbeitet wird.“

Bild einer hochgradig traumatisierten Gesellschaft

Es ist eine einfache, aber geniale Idee: Julian Hans blickt auf Phänomene und Entwicklungen der Gesellschaft, die gerade durch die Kriminalfälle grell beleuchtet werden und scharf konturiert hervortreten. Der Autor entwirft so, was der Untertitel seines Buches verspricht: „Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen“. Es ist ein düsteres Porträt. Erfahrungen, wie sie die von der Zapok-Bande tyrannisierten Menschen gemacht haben, kennen viele in Russland: Gewalt gehört zum Alltag, Verbrechen lohnt sich, der Stärkere setzt sich durch, wer sich widersetzt, wird vernichtet. Im Krieg in der Ukraine offenbaren sich schrankenlose Brutalität und Grausamkeit in den Exzessen russischer Soldaten besonders drastisch. Woher kommt die aggressive Rücksichtslosigkeit? Julian Hans zeichnet das Bild einer hochgradig traumatisierten Gesellschaft.
„Menschen, die ihr Leben lang erniedrigt wurden und daher schnell bereit sind, andere zu erniedrigen. Ein Muster, das sich seit Generationen wiederholt und aus dem auszubrechen nur einzelnen gelingt. Wer Angst hat, ist bereit, Dinge zu glauben, die jeder Logik und jeder Erfahrung zuwiderlaufen, wenn sie nur Rettung versprechen. Er ist nicht nur bereit, Schwarzes weiß zu nennen und Weißes schwarz, sondern auch daran zu glauben und diese Einstellung morgen wieder zu ändern, falls es verlangt wird.“
Julian Hans zeigt jedoch auch andere als die jahrelang eingeübten und somit erwartbaren Verhaltensweisen. Er erzählt nicht nur von Rückzug und Resignation, sondern auch von Mut und Gegenwehr. Im äußersten Osten Russlands erklären sechs junge Männer dem russischen Staat den Krieg, greifen Polizeistationen und Streifenwagen an. Drei Schwestern wehren sich gegen ihren Vater, nachdem dieser sie jahrelang gequält hat. Der Urenkel eines unter Stalin hingerichteten und später rehabilitierten Mannes klagt die Täter an. Eine gefolterte junge Frau sucht nach Wegen, um Hass und Rachegelüste zu überwinden. Jedem Fall ist ein Kapitel gewidmet. Das letzte heißt „Hoffnung“.
„Ich glaube, auch dieser Krieg, die Repressionen im Land, die Gewalt gegen die eigenen Menschen und die Aggressivität nach außen, das ist auch eine Antwort des Regimes darauf, dass sie gemerkt haben, sie können ihre Macht nicht anders erhalten als durch Gewalt und Retraumatisierung, dass man die Leute, die selbstbewusst geworden sind, wieder neu einschüchtert. Es war immer ein Wechsel, dass die Gesellschaft mutiger wurde und sich getraut hat, auf die Straßen zu gehen, dann gab es eine neue Welle von Gesetzesverschärfungen und Repressionen, teilweise passen sich die Leute an, teilweise finden sie wieder kreative Wege, wenn es nicht Widerstand ist, so doch, eine eigene Würde zu erhalten und zu beweisen, indem man nicht mitmacht und sich distanziert und lacht über den Diktator.“
Putin ist für Julian Hans ein Mann, der verzweifelt versucht, die Zeit anzuhalten. Das mag sein. Aber es bedeutet leider nicht, dass den demokratischen Kräften zwangsläufig die Zukunft gehört. Das glänzend geschriebene und aufschlussreiche Buch hebt die Kräfte der Erneuerung hervor. Doch das längste und wuchtigste Kapitel, das vom Terror einer kriminellen Bande erzählt und mit „Angst“ überschrieben ist, zeigt bedrückend klar eine zutiefst verstörte Gemeinschaft. Den Kreislauf von Angst und Gewalt zu durchbrechen, in dem Russland seit Langem gefangen ist, bleibt die größte Herausforderung für das Land. „Kinder der Gewalt“ macht das überzeugend deutlich.    
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