Juli Zeh über "Neujahr"

"Unglaublich nahe an meiner eigenen Lebenswirklichkeit"

Juli Zeh diskutiert mit der Moderatorin an einem Stehpult
Die Schriftstellerin Juli Zeh zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse 2018 © David Kohlruss
Juli Zeh im Gespräch mit Andrea Gerk · 12.10.2018
Juli Zeh ist nicht nur als Erfolgsautorin bekannt, sondern auch für ihr zivilgesellschaftliches Engagement. Ihr neuer Roman "Neujahr" spielt auf Lanzarote - und handelt vom Stress, sich immer wieder optimieren zu müssen.
Andrea Gerk: Juli Zeh ist sicher eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen. Ihr erster Roman war auch schon gleich ein Bestseller. Vor zwei Jahren dann "Unter Leuten", das ist ja wahnsinnig abgegangen, seitdem kennt Sie wirklich jeder. Sie sind aber auch promovierte Juristin und haben im Mai das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement bekommen. Was freut Sie denn mehr – so eine Ehrung oder ein Platz auf der Bestsellerliste?
Zeh: Ich komme ja mit Freuen quasi überhaupt nicht hinterher. Ich will das auch jetzt gar nicht gegeneinander abwägen. Es sind unterschiedliche Bereiche in meinem Leben, die sind mir gleich wichtig, also sowohl die Literatur als aber eben auch das – wie soll ich es nennen – staatsbürgerliche Engagement. Und in diesen letzteren Bereich fällt natürlich jetzt auch diese Kandidatur für das Landesverfassungsgericht in Potsdam.
Gerk: Aber dieser große Erfolg, den Sie haben, hat das nicht auch Ihren Alltag total verändert?
Zeh: Nein, das ist einem ja auch selbst überlassen, inwieweit man sich da rein begibt und vielleicht auch in der Anerkennung schwelgt, oder ob man einfach bei den Fakten des Alltags bleibt. Und hauptberuflich bin ich ja vor allem Mutter. Meine Kinder sind noch sehr klein, und es gibt nichts, was einen so erdet wie eine gestandene Mittelohrentzündung. Da kann man Bestsellerlistenplätze rauf und runter haben, am Ende steht man trotzdem nachts um drei an einem Bett und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

"Meistens arbeite ich an verschiedenen Texten parallel"

Gerk: In Ihrem neuen Roman, in "Neujahr", geht es ja auch um eine Familie, die im ersten Moment wie eine Bilderbuchfamilie wirkt: Der Vater macht eigentlich mehr als die Mutter. Die verdient mehr Geld, er macht mehr Familienarbeit. Die Kinder sind irgendwie auch nett. Eigentlich so eine Art Kammerspiel. War das nach ihren großen Gesellschaftsromanen zuvor jetzt mal fällig, sich so auf etwas Konzentriertes zu fokussieren?
Zeh: Da kann ich nur mit einem beherzten "Vielleicht" antworten, weil meinen Büchern meistens eigentlich kein richtiger Entscheidungsfindungsprozess vorausgeht. Ich setze mich nicht wirklich wochenlang hin und überlege, was ich als Nächstes machen könnte. Meistens arbeite ich an verschiedenen Texten parallel und lasse mich auch ein bisschen hin- und hertreiben, wie ein Holzstück in einem Fluss.
Und "Neujahr" kam als Idee völlig überraschend zu mir. Und auch mit einem ungeheuer massiven Imperativ, der wirklich sagte, du setzt dich jetzt sofort hin und schreibst das auf. Ich habe mir da in keiner Weise Gedanken dazu gemacht, warum genau jetzt das, und was das jetzt zu bedeuten hat. Ich habe einfach nur gehorcht.

"Nahe an der eigenen Lebenswirklichkeit"

Gerk: Aber man fragt sich natürlich sofort, weil es ja auch um eine Familie mit zwei Kindern und um Verantwortung, um Vernachlässigung von Kindern geht: Wie verantwortlich ist man, was richtet man alles bei denen an, obwohl man vielleicht was Gutes will und dann was Schlechtes passiert? War das so ein Auslöser dafür?
Zeh: Bestimmt. Zumindest ist "Neujahr" von seiner Hauptfigur her, aber auch von dem, was passiert, unglaublich nahe an meiner eigenen Lebenswirklichkeit dran. Also da gibt es natürlich nicht in dem Sinne einen autobiografischen Bezug – weder ich noch meine Kinder wurden je in irgendeinem Haus ausgesetzt. Aber die Ängste, um die es geht, die Probleme, um die es geht, auch dieses existenzielle Durchgerütteltwerden, das sind alles Dinge, die habe ich alle am eigenen Leib erfahren.
Ein Aspekt davon ist sicher auch diese Frage, die wir uns, glaube ich, heute viel mehr stellen als noch vor ein paar Jahrzehnten: Inwieweit zerstöre ich sozusagen allein, weil ich Mutter bin, Tag für Tag die Seelen meiner Kinder, und was werden die meinem Psychiater in 20 Jahren dann über mich erzählen? Ich glaube, das ist eine Frage, die haben sich unsere Eltern überhaupt nicht gestellt. Für die waren Kinder mehr so der erweiterte Haustierbereich, wo man halt irgendwie Essen, Trinken und ein Bett hintut - groß werden die schon von allein.
Wir sind heute wirklich sehr befangen in so einem vielleicht auch narzisstischen Elternbild, das immer denkt: Alles, was ich als Mutter mache, kann mein Kind entweder retten oder zerstören oder zum Bundespräsident machen. Als wäre man der allesentscheidende Faktor.

Vom Funktionierenmüssen zum Stress

Gerk: Henning, dieser Protagonist, der eben mehr Familienarbeit macht, der zerbricht ja auch so ein bisschen unter seinen hohen Ansprüchen. Er hat ja im ersten Teil Panikattacken. Er weiß nicht so richtig, woher die kommen. Ich dachte, das kommt schon auch aus diesem Überperfektionsdenken.
Zeh: Auf jeden Fall. Aber das würde ich jetzt auch nicht nur beschränken wollen auf quasi die speziellen Nöte eines modernen Vaters. Sondern, ich denke, er verkörpert schon auch eine zeitgeistige Sache: Dieses extreme Funktionierenmüssen, diese Haltung, aus eigentlich allem was Optimierungswürdiges zu machen, selbst aus intimen Geschichten wie Freundschaft, Liebe, Ehe, Sex, Familie. Beruf sowieso, man kann alles verbessern. Man kann alles noch toller hinkriegen. Man kann auch alles immer ranken, und man kann alles vergleichen. Ich glaube, das ist eine Haltung, die uns alle in allen Lebensbereichen sehr stark beeinflusst und enormen Stress auslöst.
Gerk: Im ersten Teil macht er sich ja auf einer Fahrradtour auf den Weg und kommt dabei auch ein bisschen zu sich selbst, indem er einer Episode aus seiner frühen Kindheit begegnet. Das Buch handelt sehr von Erinnerungen, von dem, was Erinnerung eigentlich ist. Ist dieses Wegfahren auch so ein Motiv, wo es eigentlich darum geht, dass man weggehen muss von etwas, um es überhaupt sehen zu können?
Zeh: Ich würde es eher so sehen, dass Henning, indem er sich auf diesem Aufstieg, auf diesen steilen Berg wirklich hinaufquält, sich sozusagen unter Mühe und Schmerzen auf etwas zubewegt. Also nicht so sehr, was er hinter sich lässt, sondern eigentlich dass er sich gegen innere Widerstände zu etwas hinbewegt, woran er sich bislang eben nicht erinnern konnte.

Neue Geschlechterrollen

Gerk: War das eigentlich gleich klar, dass das der Mann ist, der da überfordert ist?
Zeh: Für mich gleich klar, dass der Mann die Hauptfigur sein muss. Als ich anfing, die Geschichte zu schreiben, hatte ich die Vergangenheitsepisode mit den beiden Kindern im Kopf. Da war es für mich klar, dass das ältere Kind ein Junge ist und das jüngere Kind ein Mädchen. Vielleicht, weil das bei meinen Kindern auch so ist. Daraus hat sich dann automatisch ergeben, dass auch die Hauptfigur der Gegenwartsgeschichte ein Mann sein muss, weil er ja der groß gewordene Junge ist.
Gerk: Trotzdem ist dies ja auch ein Phänomen, das in der Gesellschaft vielleicht etwas untergeht: Dass Männer sich ja auch bemühen, allen Rollenbildern zu entsprechen, andere Aufgaben zu übernehmen, aber emotional vielleicht gar nicht hinterherkommen.
Zeh: Was nicht untergeht, ist die Problemstellung zu besprechen, also die Frage, wer ist jetzt der neue Mann, und was darf er und was nicht. Das ist ja sozusagen eines der Lieblingskinder der Medien. Ich finde aber, was tatsächlich ein bisschen fehlt - und das erlebe ich auch im Bekanntenkreis immer wieder - ist eine Haltung, darüber tatsächlich auch persönlich zu sprechen, im Sinne einer subjektiven Erfahrung jedes Einzelnen.
Ich glaube, da sind wir Frauen als traditionelle Quatschbasen und Selbst-Offenleger sozusagen eher im Geschäft. Männer tun sich da nach wie vor generell ein bisschen schwerer. Das ist ein Klischee, aber ich glaube, es ist auch viel Wahres dran.

Der Roman entstand tatsächlich auf Lanzarote

Gerk: Das Ganze spielt ja auf der Insel Lanzarote. Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu dieser Insel? Sie fahren da schon lange hin?
Zeh: Genau. Ich bin im Winter immer wieder dort gewesen. Jetzt macht die Schulpflicht diesem luxuriösen Dasein den Garaus. Und als ich die Idee zu "Neujahr" hatte und das dann auch geschrieben habe, war ich auch dort. Ich war also die gesamte Schreibzeit auf der Insel, sozusagen mitten in der Geschichte drin.
Gerk: Und es liest sich ja unglaublich packend, fast thrillerartig. Was fasziniert Sie denn so an diesem Spannungsgenre?
Zeh: Na, dass es so spannend ist. Ich lese wirklich gerne spannende Bücher und bin immer sehr beglückt als Leserin, wenn ich ein Buch in Händen halte, das diese sogartige Spannung mit einer poetischen Sprache kommt - oder mit noch ein paar Extragedanken auf einer etwas höheren Ebene. Wenn man sozusagen dieses berüchtigte "E-" und "U-" aus der deutschen Rezeption zusammenbringt. Und das ist beim Schreiben naturgemäß auch mein Versuch, weil das einfach meine Lieblingsliteratur ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Juli Zeh: "Neujahr"
Luchterhand-Verlag, München 2018
192 Seiten, 20 Euro

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