Jugendliche in der Coronakrise

Eine ausgebremste Generation

28:17 Minuten
Die Rückansicht eines jungen Teenagermädchens, sie steht auf einer Bank und schaut über Felder in eine herbstliche Landschaft. (Symbolbild)
"Es ist sehr belastend", sagt Merve über die Monate der Pandemie. (Symbolbild) © imago images/Mint Images
Von Teresa Sickert · 01.02.2021
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Direkte soziale Kontakte auf ein Minimum reduzieren! Darunter leiden gerade Jugendliche, denn die Jugend ist eine Phase der Ablösung vom Elternhaus, der Selbstfindung und wichtiger Entscheidungen. Übersieht die Politik ihre Bedürfnisse?
Ende Oktober 2020 erscheint im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" ein Text der Journalistin und Feministin Teresa Bücker. Sie schreibt über Jugendliche in der Coronakrise: "Natürlich verschmerzt ein Kind eine abgesagte Feier und einen Sommer ohne Zeltlager."

"Ich brauche auf jeden Fall sozialen Austausch"

"Ja, man kann sich nicht mehr mit allen Freunden treffen, man kann nicht irgendwie sich im Park hinsetzen und mit fünf, sechs Freunden irgendwie was entspannt trinken gehen oder so was Ähnliches.", erzählt die 17-jährige Merve aus Berlin.
Teresa Bücker schreibt weiter: "Doch wenn über viele Monate hinweg ein Kind oder ein Teenager immer wieder zu spüren bekommt, seine Bedürfnisse seien jetzt verzichtbar, vermessen und Traurigkeit unangebracht, dann geht es um mehr als einen Geburtstag ohne Gäste."
Merve bestätigt das: "Definitiv. Ich brauche auf jeden Fall diesen sozialen Austausch, mit anderen Menschen zusammen zu sein, Spaß zu haben, zu lachen oder auch gemeinsam traurig sein oder so. Das gibt mir irgendwie Halt."
"Was verändert ein Jahr, in dem man nicht wichtig war? Was verändert ein Jahr, in dem man als Kind eine Belastung war?" Der Text von Teresa Bücker und ihre Fragen - auf die sie keine Antwort hat - stimmen mich nachdenklich.
Jugendliche in Zeiten von Corona, eine ausgebremste Generation? Übersehen? Vergessen?

Corona aus der Perspektive einer Abiturientin

Dezember 2020. Ich besuche die Arche in Berlin-Friedrichshain, ein christliches Kinder- und Jugendwerk, das sich deutschlandweit gegen Kinderarmut engagiert. In die Arche im Friedrichshain kommen täglich bis zu 90 Kinder und Jugendliche: Zum Spielen, Musizieren, Mittagessen und Freunde treffen.
Die meisten hier sind aus weniger privilegierten Verhältnissen, das bedeutet auch beengter Wohnraum, wenig Geld. Hier treffe ich Merve, ihre Mutter arbeitet in einer Bank, der Vater ist Reinigungskraft.
Pastor Bernd Siggelkow spricht auf Abstand mit dem Team der Arche.
Lagebesprechung in der Berliner Arche während des ersten Lockdowns im März: Für Merve eine besonders schlimme Zeit.© picture alliance / AP / Markus Schreiber
Merve, die eigentlich anders heißt, ist 17 Jahre alt: "Ich wohne hier im Friedrichshain, ich mach zurzeit mein Abitur."
Merve ist eine reflektierte junge Frau. Sie wirkt erwachsen und selbstbewusst. Fast ein bisschen zu erwachsen vielleicht. Die Coronazeit empfindet sie als sehr stressig.
"Weil ich halt vieles sehr einschränken muss, weil meine Eltern gesundheitlich nicht die Fittesten sind", erzählt sie. "Mein Vater ist sehr alt. Er ist 64 und deswegen muss ich immer aufpassen, mit welchen Leuten ich Kontakt habe und versuchen, immer die ganzen Hygienemaßnahmen einzuhalten. Und man muss eben sein ganzes Leben umstellen. Ich kann nicht mehr in mein Fitnessstudio gehen, was eigentlich meine größte Leidenschaft ist. In der Schule ist viel Stress, weil die Lehrer schnell den Stoff durchkriegen wollen, damit die Noten da sind, damit man auch am Ende ein gutes Zeugnis haben kann."

"Es ist sehr belastend, es belastet die Psyche"

Besonders der Lockdown im Frühjahr war schlimm für Merve.
"Weil ich wirklich immer die ganze Zeit zu Hause war", sagt sie. "Man konnte nicht hier in so eine Freizeiteinrichtung gehen oder irgendwo. Da war ich sehr auf mich allein gestellt. Meine Eltern mussten natürlich arbeiten gehen, das war sehr belastend zu Hause, dass man da nicht rausgekommen ist, irgendwie. Das Einzige, was man konnte, war spazieren, alleine mal eine Stunde oder so, aber es befriedigt eben auch nicht die Seele."
Für die ältere Generation, deren Kinder bereits aus dem Haus sind, können die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen unter Corona sogar entspannend wirken. Weniger Termine, weniger Pendelei, weniger Stress, mehr Frei- und Erholungszeit.
Doch für Heranwachsende wirken sich die neuen Lebensbedingungen anders aus.

Angst um die eigenen Eltern

"Es ist sehr belastend", sagt Merve. "Es belastet die Psyche, weil man viel zu Hause ist und nicht mit anderen sich austauschen kann. Ja."
Merve gehört zu den Jugendlichen, die sich sehr strikt an die Corona-Maßnahmen halten. Ihre Eltern gehören zur Risikogruppe. Die Mutter leidet an Asthma und Bluthochdruck. Der Vater ist ein ehemaliger starker Raucher, hat ebenfalls Asthma und leidet an Diabetes.
"Es ist eben schwierig für mich, wenn ich mal irgendwie Kontakt mit der Person hatte oder so. Dann habe ich immer Angst, dass er das bekommt durch mich und dass dann er stirbt. Das wäre das Schlimmste für mich."
Also steckt Merve zurück, den Eltern zuliebe. Eine Weile trifft sie niemanden. Ihre beste Freundin ist in dieser schweren Zeit ein wichtiger Anker.

Haltung zu Corona gefährdet Freundschaften

Nicht alle Freunde haben Verständnis dafür, dass Merve sich so zurückzieht. Corona polarisiert.
"Bestimmte Freundschaften haben sich sehr gefestigt, haben mir sehr geholfen", sagt sie. "Meine beste Freundin und so. Aber paar Freundschaften haben sich halt auch gelöst. Also dass man keinen Kontakt mehr hatte, weil man anderer Ansicht gegenüber Corona war. Auch eine Freundin von mir, die ist immer feiern gegangen mit anderen Leuten raus, und ich fand es unverantwortlich. Deswegen hat sich unser Kontakt sehr gelockert. Ist eben schade, ich mochte die Person sehr. Aber vielleicht sollte es so sein."
Merve fühlt sich zunehmend einsam. Zu Hause gibt es Streit, sie möchte wenigstens ihre beste Freundin sehen.

Einsamkeit und negative Gedanken

"Mir fehlt eben dieses Soziale mit anderen", erzählt sie. "Ich bin ein sehr offener Mensch und weggerissen zu werden von anderen Menschen, setzt mir sehr zu, weil ich dann für mich alleine bin. Und dann fängt man an, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und dann ist da so - irgendwie finde ich mich ja doch nicht so toll, oder? Ich habe da dauernd das Problem und niemand kann mir da helfen - und es fehlt eben. Und davon halten mich andere Menschen ab, oder sie helfen mir, wenn ich damit Probleme habe."
Wissenschaftler von der Universität Hildesheim und der Universität Frankfurt haben mit zwei Online-Befragungen erforscht, wie Jugendliche den ersten Lockdown und die Zeit danach erlebt haben und mit welchen Sorgen sie auf ihr persönliches Leben und die gesellschaftliche Entwicklung blicken.
Merve ist mit ihrem Gefühl der Einsamkeit nicht alleine. Über ein Drittel der Befragten gibt an, sich in der aktuellen Situation einsam zu fühlen. Die Zahlen stammen noch aus der Zeit von vor dem zweiten Lockdown. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Pandemie behindert Lösung vom Elternhaus

Für Jugendliche ist der Umgang mit Gleichaltrigen von enormer Bedeutung. Nur so können sie Schritte unternehmen, um sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Zwar ist das Elternhaus auch in dieser Entwicklungsphase noch von enormer Bedeutung, wer in stabilen und wohlwollenden Familienverhältnissen aufwächst, der kommt besser durch die Pandemie.
Aber, sagt Michael Corsten: "So wichtig das Vertrauen zum Elternhaus ist, gleichermaßen wichtig ist, diesen Weg der Ablösung zu finden, sich auch ein Vertrauen aufzubauen, das über das sichere Elternhaus hinausgeht."
Michael Corsten ist Professor für Soziologie an der Universität Hildesheim. Auch ihn beschäftigt die Frage, wie junge Erwachsene durch die Coronakrise kommen und wie sich diese Krise auf ihre Zukunftsperspektiven auswirkt.
Zum Start des neuen Jahrzehnts sah für die Jugend alles noch nach Aufbruch aus.

"Habe mich so sehr auf 2020 gefreut"

So erinnert es auch Merve: "Damals habe ich mich so sehr auf 2020 gefreut beziehungsweise dieses Jahrzehnt, das gekommen ist, das wird das Wichtigste in meinem Leben sein. Ich werde mein Abitur beenden. Ich werde mein Studium beenden. Ich werde einen Job haben. Vielleicht finde ich den Mann, den ich später lieben werde, werde vielleicht Kinder kriegen. Und dass dieses Jahrzehnt eigentlich so schlecht startet, damit habe ich nicht gerechnet."
Der Soziologe Michael Corsten meint, für die jungen Menschen stehe viel auf dem Spiel. Jugendliche verlieren infolge der Pandemie die Handlungs- und Bewegungsräume, die sie brauchen, um ihre eigene Identität und ihren psychosozialen Ausgleich zu finden. Doch Vereine, Jugendclubs, Bars, Restaurants sind, und waren größtenteils geschlossen.
Die Jugend ist kurz, doch sie ist prägend. Sie ist ausschlaggebend dafür, welche politische Haltung wir entwickeln. Man entscheidet sich für einen Berufs- und Bildungsweg. Erste Liebesbeziehungen werden erprobt.
Das alles ist seit Corona nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

Jugendlichen fehlen Krisenerfahrungen

Corsten vergleicht die aktuelle Lage mit der Weltwirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts. Untersucht hat diese Zeit der Soziologe und Psychologe Glen H. Elder. In seinem Werk "Children Of The Great Depression" identifiziert er die Faktoren, die beeinflussen, wie gut eine Generation durch die Krise kommt.
Zum einen spielt das Lebensalter eine Rolle: Wer mehr Lebenserfahrung hat, kann auch schon eine stärkere Fähigkeit zur Resilienz entwickeln. Demnach können Jugendliche zwar besser mit Krisen umgehen als Kinder, aber schlechter als Erwachsene, die bereits mehr Krisenerfahrungen gesammelt haben.
Hinzu kommen noch weitere Faktoren, sagt Michael Corsten:
"Wovon hängt es ab, wie stark mich die Krise trifft? Und da würde ich zwei Dinge sehen. Einmal die Bedeutung des Wohnraums, die ist eklatant. Die Bedeutung des unmittelbaren räumlichen Umfeldes und wahrscheinlich sogar dann als Verstärker die Wahrscheinlichkeit aufgrund der Krise arbeitslos zu werden, in Kurzarbeit zu gehen oder eben auch für Selbstständige in einer Branche tätig zu sein, die jetzt massiv von der Krise betroffen ist. Dann steigt der Stress in den Familien umso mehr und kann dann auch wirklich Schwermut, schwer zumutbare Situationen als Folge haben."

"Ohne die Arche kann ich nicht"

In einer solch schwer zumutbaren Situation befindet sich Jana, 15 Jahre alt. Auch sie treffe ich im Dezember 2020 in der Arche in Berlin-Friedrichshain.
"Ich habe sieben Geschwister, mit mir sind wir acht", erzählt sie. "Und ja, wir sind eine Großfamilie."
Mit fünf von ihren Geschwistern lebt Jana gemeinsam mit Eltern und Großeltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Rückzugsmöglichkeiten gibt es kaum. Für Jana ist die Arche deshalb von zentraler Bedeutung. Seit zehn Jahren kommt sie regelmäßig hierher.
"Meine Geschwister gehen zur Arche. Und wegen der Mitarbeiter und wegen meiner Freunde hier. Ich bin mit der Arche aufgewachsen. Ohne die Arche kann ich nicht", sagt sie.
Doch im Lockdown schließen viele Sozialeinrichtungen, auch die Arche.
Und Jana steht vor Problemen: "Zu Hause lernen kann ich nicht. Mach ich auch nicht, weil, es geht einfach nicht. Wenn ich lerne, dann lerne ich in der Schule mit meinem Lehrer. Ich habe einen Extra-Lehrer bekommen."

Als Einzige zum Lernen in die Schule

In der Schule registriert man, dass Jana unter den Bedingungen zu Hause nicht lernen kann. Sie darf als Einzige in die Schule kommen. Und weil zu Hause so wenig Platz ist, geht Jana weiter raus.
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"Zu Hause lernen kann ich nicht" - Jana darf als Einzige in die Schule kommen.© imago / Michael Weber
Sie nimmt es nicht so genau mit den Corona-Regeln. Und dann erkrankt sie. Ein Schock.
"Ja, man denkt, das ist nur eine Grippe. Okay. Ist es vielleicht eine Grippe oder eine Erkältung oder was auch immer? Aber es ist viel schlimmer, als man denkt", sagt sie.
"Ich habe mich auch nicht an die Regeln gehalten, habe Witze darüber gemacht und so, und dann habe ich es bekommen. Also ich glaube daran, so mehr man sich darüber lustig macht und lacht, bekommt man das. Keine Ahnung. Corona hört, Corona sieht und Gott sieht. Ich kenne Leute, die sich witzig machen über Corona, die krank sind oder die es bekommen haben. Und ja, ist nicht schön."

Die Zumutungen der Quarantäne

Ihre Familie muss eines der drei Zimmer allein für Jana freihalten. Mit einer Maske im Gesicht stellen sie ihr das Essen ins Zimmer und gehen schnell wieder raus. Ansonsten ist sie allein.
"Es war sehr schwer für mich, war traurig, dass sie so Angst hatten, dass sie es auch bekommen", sagt sie. "Es ist einfach doof, wenn man alleine in einem Raum ist und keiner ist da, nur dein Handy, dein Essen, Trinken, deine Decke und dein Kissen. So wie: Du hast keine Freunde oder alles ist doof. Es war eine schwierige Zeit. Dieses Jahr ist sehr viel passiert. Leider. Sehr viele sind gestorben, von meiner Familie. – Sie waren wegen anderer Gründe krank."
Im Coronajahr 2020 sterben mehrere Verwandte von Jana. Ihr Onkel zum Beispiel hatte Krebs. Jana stammt aus dem bosnischen Kulturkreis und es gelten strenge Trauerregeln. Es ist eine harte Zeit.
"Wir haben einen Monat lang getrauert", erzählt sie. "Keine Musik, kein Fernsehen, kein Nichts. Nur du und deine vier Wände. Und deine Familie."

Angst vor der Zukunft und zu versagen

Janas Noten sind schlechter geworden. Zu dumm sei sie, scherzt sie bitter und gibt sich selbst die Schuld an ihrer Situation in diesem schweren Corona-Jahr. Sie spielt die Toughe, macht ihre Witzchen. Aber in einem ruhigen Moment gesteht Jana doch, sie hat Angst vor einem zweiten Lockdown und Angst vor der Zukunft.
Sie hofft ihre Berufsbildungsreife zu schaffen und den Mittleren Schulabschluss:
"Meine Angst ist, dass ich MSA und BBR nicht schaffe. Und wenn ich das nicht bestehe, dann ist mein ganzes Ziel und mein Wunsch für den Mülleimer. Also ich was mir von Herzen wünsche, ist, dass ich auf einen BBR hoffe, dass ich bald, Inschallah, dass ich in der Arche arbeite."

Bildungsungerechtigkeit verschärft sich

Die Pandemie trifft diejenigen am härtesten, die ohnehin die schlechtesten Voraussetzungen haben. Doch für bessere Lebenschancen braucht es Bildung. Aber die Bildungsungerechtigkeit verschärft sich unter Corona weiter.
Im Frühjahr 2020 waren die Schulen in Deutschland bereits 17 Wochen geschlossen. Ab Dezember 2021 schlossen die Schulen erneut. Doch je länger und häufiger die Schulen geschlossen bleiben, umso stärker wirken sich die negativen Effekte auf Lernerfolge, Bildungs- und Berufschancen aus.
Aus vergangenen Studien lässt sich ableiten, dass allein der Unterrichtsausfall im Frühjahr die betroffenen Jahrgänge bis zu vier Prozent ihres Lebenseinkommens kosten kann. Und dabei geht es nicht nur um materiellen Wohlstand. Das Einkommen bestimmt unter anderem auch die Gesundheit, die Lebensqualität und die Lebenserwartung.

Regeln befolgen ohne Mitbestimmung

Dass auch Erwachsene viel stärker zur Senkung von Inzidenzzahlen in die Pflicht genommen werden könnten, um Kindern und Jugendlichen nicht wochenlang den Zugang zu Bildung zu erschweren, scheint in Deutschland kein Modell zu sein.
"Es wird viel so gesagt, dass man sich jetzt auf die Schule konzentrieren soll", sagt Helene. "Und wenn man das nicht hinbekommt, dass man sich alles einfach noch mal in Ruhe angucken soll. Was aber, wie gesagt, einfach nicht so möglich ist, wenn man jetzt zu Hause sitzt und nicht wirklich jemanden hat, der sich in diesem Fach auskennt. Deswegen finde ich, es ist einfach sehr komisch gewesen."
Helene ist 13 Jahre alt und lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter und einem Bruder in Berlin-Mahlsdorf. Sie ärgert sich darüber, dass ihr Regeln übergestülpt werden. Dass sie nicht mitbestimmen darf. Wütend und traurig darüber dürfe sie aber auch nicht sein.
"Es wird meistens so gesagt", erzählt sie, "dass es ja nicht so schlimm ist, wenn jetzt mal- sag ich mal - der Urlaub ausfällt. Und dass man es nachholen kann. Aber, wenn jetzt zum Beispiel jemand seinen 18. Geburtstag hat, dann wäre das ja jetzt nicht so schön, weil man dann so alleine zu Hause sitzt."

Ein Computer für zwei Geschwister

Helene hat ihren Geburtstag im letzten Jahr nicht mit Freunden gefeiert. In diesem Jahr ist ihre Jugendweihe. Ein wichtiger Tag in ihrem Leben, ob es eine Feier geben wird, ist unklar. Es ist nicht das erste Mal, dass Corona Helene viel abverlangt.
Zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns befindet sie sich gerade im ersten Halbjahr auf dem Gymnasium. Eine große, neue Herausforderung, und für die Schülerin unter den Unterrichtsbedingungen des Lockdowns kaum zu schaffen.
"Also ich bin ja früh morgens meistens immer so um sieben oder acht aufgestanden und habe mich an einen Rechner gesetzt: Weil mein großer Bruder ja auch an den Rechner musste und wir uns den dann geteilt haben, sodass ich vormittags rangegangen bin und er dann nachmittags rangegangen ist", erzählt sie.
"Manche Onlinechats waren zum Beispiel am Nachmittag. Und dadurch, dass mein Bruder ja am Rechner war, war das schwer so einzuplanen, wann der Rechner frei ist und wann nicht. Also ich habe es natürlich probiert, dass ich trotzdem ran konnte und so. Aber es war einfach ziemlich schwer, weil man vieles auch nicht so leicht begreifen konnte - über so einen Text sozusagen. Es ist schon besser, wenn es jemand persönlich erklärt."

Schulwechsel nach dem ersten Lockdown

Helenes Mutter arbeitet in einem Supermarkt und versucht, ihre Tochter so gut es geht zu unterstützen, doch die Alleinerziehende kann nicht alles auffangen. Helene kommt nicht mehr mit.
Die Lücken, die im Lockdown entstanden sind, lassen sich kaum noch schließen. Schließlich wechselt Helene auf eine Gesamtschule, um den Druck rauszunehmen. Jetzt kommt sie besser mit.
Doch ohne Corona wäre sie vielleicht noch auf dem Gymnasium. Auch für die Abiturientin Merve ist die Situation in der Schule belastend.
"Mein Abitur hat sehr darunter gelitten", sagt sie. "Ich kann meinen Durchschnitt nicht halten, weil man einfach bestimmte Defizite hat, durch dieses Homeschooling. Ich hoffe natürlich, dass ich am Ende mein Abitur bestmöglich abschließe, damit ich auf meine Traum-Universität gehen kann. Ich möchte gern an die Humboldt-Uni, möchte Lehramt studieren und dafür braucht man eben einen sehr guten Durchschnitt. Und es ist natürlich schwierig, durch Corona in der jetzigen Zeit irgendwie effizient zu lernen. Wenn die Lehrer versuchen, alles hintereinander weg zu machen, und man sehr unter Druck und Stress steht."

"Ich finde es einfach unverantwortlich"

Der Druck ist enorm. Das Lernen soll funktionieren - auch unter Corona-Bedingungen. Merve ist die meiste Zeit auf sich gestellt, in der Schule und auch privat.
Da ist auch immer die Angst um ihre Eltern. Und die wird nicht kleiner als die Schulen im Sommer wieder in den Regelbetrieb übergehen und im Dezember die Infiziertenzahlen in Berlin über den Inzidenzwert von 200 klettern.
"Ich finde es unverantwortlich, was die Regierung mit uns macht" sagt sie, "weil viele in unserer Schule sind entweder selbst Risikopatienten- oder deren Eltern oder Großeltern sind es. Und man sitzt wirklich eng an eng wie früher im normalen Klassenraum. Nur dass man halt die Maske aufhat. Manche Lehrer haben die ganze Zeit die Fenster offen. Andere haben nie die Fenster offen. Jeder Lehrer macht es unterschiedlich. Und ich finde es einfach unverantwortlich, dass man den Sicherheitsabstand nicht einhalten kann in der Schule."

Übersehen von Politik und Gesellschaft

Merve ist wütend. Sie fühlt sich von der Politik und der Gesellschaft übersehen - und einsam. Sie soll klaglos funktionieren in einer Pandemie, die ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat. Spurlos kann diese Zeit gar nicht an ihr vorübergehen.
"Ja, es ist eine schwierige Zeit für mich. Ich will jetzt nicht weinen.", sagt sie und schluchzt.
"In der Schule passiert sehr viel, was vielleicht unter Corona-Gesichtspunkten auch extrem riskant ist.", sagt Michael Corsten. "In der Freizeit aber muss ich sozusagen da, wo ich eigentlich frei sein kann, da wo ich selber sozusagen meine Handlungen steuere, und überlege, was soll ich tun? Da bin ich gefordert, mich einzuschränken. Und da, wo ich der Pflicht nachkommen muss, da soll ich auf einmal nicht auf diese Risiken achten. Das ist für die Jungen heute, glaube ich, einfach auch ein bisschen paradox. Das wirkt irgendwie schizophren, sich in der Weise auf die Situation einstellen zu müssen."

Widersprüchliche Signale und Botschaften

Gesellschaft und Politik senden widersprüchliche Signale an die Jugendlichen. In der Schule sitzt man dicht an dicht im Klassenverband, aber privat fordert man, die Kontaktbeschränkungen diszipliniert zu beachten.
Auch an anderer Stelle erleben Jugendliche Widersprüchliches: Der Klimaschutz war das Thema für die junge Generation. Noch im Jahr 2019 gingen Millionen von Schülerinnen und Schülern weltweit für den Klimaschutz auf die Straße.
Junge Menschen protestieren am Brandenburger Tor in Berlin gegen die Erderwärmung, auf einem Schild steht "Wake up / Wacht auf".
Demonstration am Brandenburger Tor: Der Klimaprotest der Jungen wurde 2020 infolge der Pandemie erstmal ausgebremst.© Unsplash / Nico Roicke
Damals diskutierte Erwachsenendeutschland ob es angemessen sei, wenn Jugendliche für ein für sie wichtiges politisches Ziel hin und wieder an einem Freitag die Schule sausen lassen. Nun wird denselben Schülerinnen und Schülern wochenlang der Zugang zu Bildung erschwert. Zum Schutz der Alten.
Die Bedrohung der jungen Generation - durch den Klimawandel - ist ins Hintertreffen geraten. Der Klimaprotest wurde 2020 infolge der Pandemie ausgebremst.
Was folgt? Die Jugendlichen fühlen sich politisch nicht gesehen. Die JuCo-Studie aus Hildesheim und Frankfurt zeigt: Knapp 60 Prozent der Befragten gaben an, den Eindruck zu haben, die Situation junger Menschen sei der Politik nicht wichtig und fast 65 Prozent haben eher nicht oder gar nicht den Eindruck, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden.

Das Vertrauen einer Generation steht auf dem Spiel

Die schlechten Ergebnisse sind auch damit zu erklären, dass Jugendliche bislang nicht in Entscheidungsprozesse rund um die Infektionsschutzmaßnahmen und ihre Lockerungen einbezogen wurden, findet Michael Corsten. Das müsse sich ändern, denn es steht viel auf dem Spiel: nicht weniger als das Vertrauen einer ganzen Generation.
"Ich glaube, dass wir das Vertrauensproblem ernst nehmen sollten", sagt er. "Weil wir sehr starke Regeln einfordern und gleichzeitig aber auch vieles dann wiederum den Individuen überlassen, wie sie sozusagen mit diesen Regeln umgehen. Dass es eine besondere Schwierigkeit macht, vielleicht gerade in der Lebensphase der Adoleszenz, der beginnenden Adoleszenz, weil hier ja der Aspekt der Identitätssuche beginnt und auch der schwierige Prozess der Ablösung vom Elternhaus, in dem die Eltern infrage gestellt werden. Und der Ablösungsprozess funktioniert wiederum nur dann, wenn dieses Infragestellen auch wieder in ein Vertrauen münden kann."
Michael Corsten sagt, für Jugendliche ist es nur möglich eine eigene, stabile Identität zu entwickeln, wenn es zu einer Identitätsbalance kommt. Heißt: Nach einer ersten Ablösung und Abgrenzung von den Eltern müssen die Jugendlichen das Vertrauen zurückerlangen, dass diese Beziehung doch wichtig und wertvoll ist.
"Und zwar unter dem Aspekt, dass man auf etwas aufbauen kann, dass man auf etwas gründen kann und dass Sozialbeziehungen im Kern doch auch vertrauenswürdig sind", erläutert er. "Und das steht vielleicht hier auf der Probe, wenn wir keinen vernünftigen Weg finden, auf die Herausforderungen zu antworten, die sich eben auch den Jugendlichen stellen."

Chance einer "Generation Corona"

Und was passiert, wenn wir keine guten Antworten auf die Herausforderungen der Jugend finden?
Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sich die Jugendlichen von ihren Eltern und den Entscheidungsträgern abwenden, die über sie hinweggegangen sind. Ähnlich wie die 68er-Bewegung, die ebenfalls heftig auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit reagierte.
Eine Abwendung gefährdet aber auch immer den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wenn das Vertrauen verloren geht, steht auch die Solidaritätsbeziehung auf dem Spiel. Wer als Jugendlicher das Gefühl hatte mit seinen Problemen nicht gehört zu werden und dann in eine ungewisse oder gar belastete Zukunft geht, ist weniger bereit, die Verantwortlichen später zu unterstützen.
Michael Corsten rät deshalb - im Interesse ihres eigenen guten Lebens - sollten die Entscheidungsträger von heute die Sorgen der Jugend ernst nehmen.

"Die Stützen der Gesellschaft von morgen"

"Und das würde ich nicht nur den Akteuren zu Hause gewissermaßen in ihrem kleinen Kreis mit auf den Weg geben", sagt er. "Sondern ich würde das politisch adressieren - und zwar ganz im Ernst: Ich würde es sogar unserem Finanzminister und unseren Sozialpolitikern im Besonderen raten. Denn die Jugendlichen, die heute diese Probleme haben, sind die Stützen der Gesellschaft von morgen. Und wir muten diesen Stützen der Gesellschaft sehr viel zu. Der Finanzminister dieser Bundesrepublik Deutschland verfügt über enorme Steuergelder. Er hat enorme Kredite aufgenommen. Die Gesellschaft wird diese Kredite irgendwann begleichen müssen - und sie muss etwas dafür tun, dass die Jugendlichen von heute handlungsstark bleiben."
Doch die Jugend hat auch die Möglichkeit, die Krise für sich zu nutzen. Corona offenbart die Schwachstellen nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch im globalen Kontext. Unsere moderne Lebensweise ist gerade durch den hohen Grad an Beschleunigung besonders verletzbar: Immerwährendes Wachstum, die extrem gestiegene Mobilität, das Zerstören von ökologischen Lebensräumen - all das hat dazu geführt, dass wir gerade eine Pandemie dieses Ausmaßes erleben.
Das spielt auch der Fridays-for-Future-Bewegung in die Hände, einer Bewegung, die von Jugendlichen getragen wird. Aus diesem Momentum könnte eine Generation Corona entstehen.
"In dem Moment glaube ich, wenn es tatsächlich so eine Koalition wird, sozusagen eine Koalition in der Orientierung, dass sowohl die Corona-Pandemie als auch andere krisenhafte Erscheinungen in unserer Gesellschaft etwas mit der Struktur unserer Gesellschaft zu tun haben. Und wenn das sozusagen der Aneignungsprozess der jungen Erwachsenen wäre und sie dafür dann vielleicht in drei oder vier Jahren wieder kämpfen, das artikulieren, dann hätten wir es mit einer Generation Corona zu tun", sagt Michael Corsten.

"Erst einmal richtig fett feiern"

Doch noch ist es offen, wie es für die Jugendlichen ausgeht. Die Journalistin Teresa Bücker fragte: Was verändert ein Jahr, in dem man nicht wichtig war? Was verändert ein Jahr, in dem man als Kind eine Belastung war? Viel. Gerade für die, die auf weniger Lebenserfahrung zurückblicken können, wenig Halt in ihren Familien erfahren und in beengten räumlichen Verhältnissen leben.
Doch auch im zweiten Lockdown bekommt man den Eindruck, dass seit März 2020 für die Jugendlichen wenig getan wurde. Es gibt keine einheitlichen Konzepte für digitalen Unterricht zu Hause und keine Luftfilter in den Schulen. Die Politik hat zu wenig auf die Belange der Jugendlichen reagiert.
Merve aus der Arche wünscht sich, dass Corona so schnell wie möglich wieder vorbei ist. Denn dann kann sie sich wieder ins Leben werfen - wie es sich für eine 17-Jährige gehört.
"Ich würde erst einmal richtig fett feiern gehen und ins Fitnessstudio", sagt sie. "Ich will ins Fitnessstudio gehen und fett feiern gehen, abends mit meinen Freunden. Bei mir fehlt einfach die laute Musik, zu tanzen, Spaß zu haben mit den Freunden. Und mir fehlt mein Fitnessstudio, weil es einfach meine größte Leidenschaft ist, Sport zu machen."

Autorin: Teresa Sickert
Regie: Frank Merfort
Technische Realisation: Christoph Richter
Redaktion: Constanze Lehmann

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