Jugendliche auf "Euro-Viking"-Tour

Segeln statt saufen

Mit selbstgebauten Wikingerschiffen auf historisch verbürgten Wikingerrouten.
Mit selbstgebauten Wikingerschiffen auf historisch verbürgten Wikingerrouten. © Deutschlandradio / Johannes Kulms
Von Johannes Kulms · 14.07.2017
Mit dem Slogan "Segeln statt saufen. Rudern statt raufen" wirbt das Projekt "Euro-Viking". Auf Nachbauten von Wikingerschiffen segeln Jugendliche durch ganz Europa. Sie haben allesamt schwere Geschichten im Gepäck - und lernen hier viel fürs Leben.
Louis Bartel wuchtet ein schweres Holzruder in die Höhe, fädelt es ein in eine kleine lochförmige Öffnung in der Bordwand des Wikingerschiffs. Dann nimmt der 24-Jährige Platz auf der schmalen Bank, mit beiden Händen umklammert er nun den Ruderriemen. Bartel blickt hinaus auf die vom Wind gekräuselte Oberfläche des Ratzeburger Sees.
"Man hätte schon wieder Lust, man könnte noch mal für zwei Wochen wieder mit den Booten und ein paar Anleitern los toben."
"Fühlen Sie sich dann eigentlich auch ein bisschen selber wie ein Wikinger?"
"Ja, ich sah auch durchaus schon aus wie ein Wikinger, vor 'nem guten halben Jahr waren die Haare sehr lang und da kam ich schon als Wikinger rüber."
Das nachgebaute Wikingerschiff am Ratzeburger See.
Das nachgebaute Wikingerschiff am Ratzeburger See.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
In See stechen mit dem rund 15 Meter langen beeindruckenden Wikingerschiff wird Bartel an diesem windigen Nachmittag nicht. Aber er kann davon erzählen, was wochenlange Fahrten durch die europäische Wildnis auf solchen Schiffen mit einem machen. Zwei Mal ist Bartel auf solchen Touren mitgefahren.
"Ich habe mich selber verändert, ich habe innerhalb eines Jahres 20 Kilo verloren aufgrund des Ansporns, den ich dadurch hatte."
Ein knappes Dutzend Jugendliche und nochmal so viele Betreuer – unterwegs auf einem nachgebauten Wikingerschiff über europäische Flüsse und Seen. Und das über mehrere Wochen bei sommerlichen Temperaturen – das ist die Idee von "Euro Viking".

Kein Schulabschluss, Drogenerfahrung, Gewalt

Viele der Jugendlichen bringen ihre ganz eigenen schweren Geschichten mit: Oftmals haben die jungen Frauen und Männer keinen Schulabschluss, haben Erfahrungen gemacht mit Drogen, Misshandlungen und Missbrauch und sind teilweise selber gewalttätig geworden.
"Ich hab' noch nie in so menschliche Abgründe geguckt und in solche Biografien und die konnt' ich mir einfach nicht vorstellen. Und sehe jetzt viele Jugendprobleme oder gesellschaftliche Probleme mit anderen Augen."
Burghard Pieske ist 73 Jahre alt. Der Mann mit der kleinen Statur, dem Rauschebart und dem schwarzen Hut auf dem Kopf hat schon im jungen Alter seinen Beruf als Lehrer an den Nagel gehängt um stattdessen als Abenteurer über die Weltmeere zu segeln.
Louis Bartel, Christoph Müller, Burghard Pieske (v.l.n.r.).
Louis Bartel, Christoph Müller, Burghard Pieske (v.l.n.r.).© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Die Idee zu "Euro-Viking" entstand eher zufällig: Nachdem Pieske in einem selbstgebauten Wikingerschiff den Nordatlantik überquert hatte, nahm er Mitte der 90er-Jahre das nächste Ziel in Angriff: von der Ostsee ins Schwarze Meer sollte es gehen, auf einer mehr als 3.000 Kilometer langen Route. Weil er Mitstreiter zum Rudern suchte, wandte Pieske sich an Christoph Müller, einen befreundeten Sozialpädagogen. Letzter trommelte daraufhin eine Mannschaft von Jugendlichen zusammen.
Und dann startete die Testreise nach Litauen. Bei der das soziale Anliegen noch gar nicht im Vordergrund stand, sondern erst entdeckt wurde. Ich bin damals naiv und chaotisch gewesen, sagt Pieske rückblickend.
"Das erstaunliche war, als wir zurückkamen und die Betreuer und die Leute, die sich mit diesen Jugendlichen beschäftigen, die waren derart begeistert und riefen uns an, 'Was ist da passiert, da ist ja ein unglaublicher pädagogischer Fortschritt erzielt worden!'"

Junge Menschen erobern Europa - friedlich

Die "Euro-Wikinger" waren geboren. 72 Jugendliche haben seit 2005 teilgenommen – und 26 danach ihren Schulabschluss nachgeholt, sagt Pieske. Sein Mitstreiter Christoph Müller formuliert den Ansatz des Projekts so:
"Euro-Viking steht für Völkerverständigung: Europa wird erobert von jungen Menschen mit Wikingerschiffen. Und absolut friedlich."
Natürlich wissen beide um die Geschichte der Wikinger – vor allem, dass diese während der NS-Zeit von den Nazis instrumentalisiert wurde.
"Und genau darum geht es: Da auch die Geschichte mit aufzuarbeiten. Inwiefern wurde das missbraucht, wieweit reichen diese Nazi-Parolen in unseren Alltag rein. Und wie wurde die nordische Mythologie oder gerade auch die Wikinger-Zeit verunglimpft."
Auch Jugendliche mit rechtsextremer Gesinnung seien schon mitgefahren, erzählt Müller. Doch würden die rasch eines begreifen:
"Selbstverständlich hat nicht ein einziger rechtslastiger, rassistischer Gedankengang bei uns Platz und Raum. Das haben alle beteiligten Jugendlichen sofort gelernt. Und sie konnten sich entscheiden mitzumachen oder nicht."

Die Jugendlichen werden eingespannt

Es sei wichtig, den Jugendlichen ein Gefühl auf den wochenlangen körperlich anstrengenden Fahrten zu vermitteln, macht Burghard Pieske klar: Dass sie nicht eine Therapie machen. Sondern Mitglieder sind einer Expedition auf historischen Handelsrouten, die die Wikinger vor 1.000 Jahren genutzt hätten.
"Jeder kriegt 'n Job: Einer wird Koch, einer macht die Buchführung, einer ist der Mechaniker und so weiter. Sie sind also eingespannt in diesen Rhythmus und dieser Rhythmus ist praktisch Erziehung zur Arbeit."
Rund 50 Kilometer müssen die Jugendlichen jeden Tag zurücklegen in den Booten und dabei viele Hürden überwinden – zum Beispiel Stromschnellen. Da dauere es nur wenige Tage, bis das Eis zwischen den Teilnehmern schmilzt, meint der 24-jährige Louis Bartel:
"Also, wenn man nebeneinander sitzt und sich auf den anderen einstellen kann, wie er rudert, den Rhythmus finden, und abends dann am Lagerfeuer sitzen, 'was machst du privat so', oder dann auch zusammen Feuerholz holen, dass man sich da zusammen unterhält und so entstehen auch Verbindungen, wo das ganz schnell abgebaut wird auch diese Distanz, diese zwischenmenschliche."

Natur zeigt die Konsequenzen des eigenen Handelns auf

Wichtig findet Bartel bei Euro-Viking ebenfalls…
"... dass die Weisheit nicht von Lehrern oder von Anleitern eingetrichtert wird, sondern von der Natur. Also, wenn abends das Feuerholz nicht abgedeckt wird und es regnet, ist es nächsten Tag nass. Da kann der Anleiter nichts für, das ist die Natur, die uns diese Konsequenz zeigt."
Im August startet die nächste Tour der "Euro-Wikinger" durch die Westukraine. Teilnehmen werden dann Jugendliche aus Deutschland, Dänemark und der Ukraine. Die Betreuer auf den Touren engagieren sich ehrenamtlich. Trotzdem sind die Organisatoren ständig auf der Suche nach Sponsoren. Rund 50.000 Euro seien pro Jahr nötig für das Projekt: Für die Reisen, die Verpflegung aber ebenso den Unterhalt der Wikingerschiffe.
Die seien keine Deko, sondern sprichwörtlich ein Türöffner, macht Christoph Müller klar und berichtet von einem Erlebnis auf einem kleinen Fluss in Litauen:
"Da kamen drei Wikingerschiffe, mit drei kleinen Schiffen waren wir da. Und dann sind die Leute an so einem schönen Sommerabend in ihre Häuser gelaufen, Und wir haben gedacht, Oh, so war das also vor 1.000 Jahren. Aber die kamen schon nach einer Minute wieder raus und haben gefuchtelt und gewunken, weil sie Fotos machen wollten. Und das ist der Unterschied. Wir sind freundlich überall in Empfang genommen worden und es ist ganz viel entstanden. Das ist die Faszination der Schiffe."
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