Jugend dirigiert

Nachwuchsmaestros aus dem Klassenzimmer

Eine junge Dirigentin vom Projekt "Jugend Dirigiert" steht im Berliner Konzerthaus vor dem Chor der Johanneskirche Schlachtensee und der Jungen Philharmonie Berlin.
Eine junge Dirigentin vom Projekt "Jugend Dirigiert" steht im Berliner Konzerthaus vor dem Chor der Johanneskirche Schlachtensee und der Jungen Philharmonie Berlin. © Philipp Quiring
Von Philipp Quiring · 01.06.2016
Einen ganzen Chor nur durch Handbewegungen zu lenken, das ist eine tolle Erfahrung für Kinder. Im Projekt "Jugend Dirigiert" des Musiklehrers Alexander Saier lernen sie wichtige Techniken. Es hilft ihnen aber auch bei Problemen im Schulalltag, berichten die Kinder.
Die 12-Jährige Lucie Hochkirch steht vor einem Erwachsenenchor und dirigiert. Die Ansagen überlässt sie ihrem Mentor Stefan Rauh, die Taktschläge übernimmt sie selbst. Sicher gibt Lucie ihr gewünschtes Metrum vor. Die Musik fließt und atmet unter ihren zarten Händen, sodass die Probenzeit für Detailarbeit genutzt werden kann.
Lucie ist eine von aktuell fünf Nachwuchsmaestros, die am Projekt "Jugend Dirigiert" teilnehmen, das der Musiklehrer Alexander Saier neben seiner alltäglichen Lehrtätigkeit verantwortet.
Alexander Saier – Musiklehrer, Projektentwickler: "Hey! Ich kann etwas bewirken allein durch meine Person. Ich habe die Sache in der Hand; im wahrsten Sinne des Wortes. Was ich zeige und was ich möchte, ist umgesetzt worden. Und Kinder glauben da in der heutigen Zeit des SMS-Schreibens und des Daddelns und des Chattens nicht daran, dass ihre eigene Person eigentlich das Wesentliche ist, dass die Reaktion auslöst, was die Musik ausmacht, was die Emotion ausmacht. Und ich glaube, in der heutigen Probe haben alle ein gutes Stück weit begriffen, dass das wirklich funktioniert."

Sicherer beim Streit auf dem Schulhof

Ob bei Referaten im Unterricht, beim Streit auf dem Schulhof oder allgemein, um sich seiner Selbst sicherer zu werden: Alexander Saier sieht in seinem Projekt neben der musikalischen Arbeit vor allem eine in der Persönlichkeitsentwicklung.
Seit einigen Jahren arbeitet er immer wieder mit Schülerinnen und Schülern zusammen, bringt ihnen Grundlagen des Dirigierens wie Taktarten und entsprechende Schläge bei, erarbeitet spielerisch Stücke mit YouTube-Videos und durch immer wiederkehrendes Konsultieren von Aufnahmen. Unterstützt wird er vom Chefdirigenten der Jungen Philharmonie Berlin Marcus Merkel und von Stefan Rauh, der verschiedene Chöre leitet.
"Ich bin ziemlich am Anfang mit eingestiegen in das Projekt. Da war das für die Kinder noch ganz neu und ungewohnt. Da war noch unglaublich viel Vorsicht, bei vielen sogar Angst oder Vorbehalt oder Unsicherheit einfach, weil sie noch keinerlei Erfahrung damit hatten. Sie hatten zwar schon die Technik beigebracht gekriegt. Aber dass die auch funktioniert, das konnten sie ja noch nicht erfahren.
Und dann hat sich im Laufe der Zeit entwickelt, dass die richtig frei Musik machen können, weil wir jede Woche eine Stunde arbeiten und nicht nur mit Klavier – Gott sei Dank – einige Leute aus dem Chor haben sich auch bereit erklärt, in die Unterrichtsstunden zu kommen und da auch für die Kinder eine Stelle drei, vier, fünf Mal zu machen oder zehn Mal einen Einsatz nur zu singen, bis die sich in ihrer Bewegung und ihrer Agogik wohlfühlen und bis sie merken oder bis sie die Rückmeldung kriegen: Ja, das ist gut, was ich mache!"

Der Chor als Sparringpartner

Lucie Hochkirch gibt an, seit rund zehn Unterrichtsstunden zu dirigieren. Ausschlaggebend für sie war ein Dirigier-Workshop bei Alexander Saier in den Sommerferien.
Lucie Hochkirch: "Am Anfang wusste ich nicht, ob es mir so wirklich viel Spaß macht, vor allen Leuten mit Händen und Füßen rumzufuchteln. Jetzt macht es mir eigentlich ziemlich viel Spaß. Es ist irgendwie lustig! Also Alex hat das immer mit Pferden verbunden, dass das halt die Pferdeherde ist und ich soll sie lenken, z.B. dass sie auf die Koppel gehen oder so."
Lucie dirigiert auswendig. Ihre zehnjährige Kollegin Lilly Sonneborn weitestgehend auch. Sie schaut zur grafischen Orientierung hin und wieder in die Partitur. Die meiste Zeit sind die Augen auf den Chor gerichtet. Die Rollenverteilung gegenüber einem Profidirigenten ist hier umgekehrt. Oft gibt Rauh die Ansagen stellvertretend für Lilly und der Chor dient als Sparringpartner, damit Lilly eigenes erfahren kann – wie etwa die Gestaltung eines Schlussakkordes funktioniert.
"Ah, super! Jetzt fangen wir von hinten an: Schlussakkord. Gib mal nur den Schlussakkord und genieße mal richtig, dass die alle singen! Merkst du? Erst die Ruhe finden in dir selber und dann: weg!"

Basketball und andere Hobbys

Immer wieder steht das eigene Wirken im Zentrum der Probenarbeit. Die Körpersprache und ihr Einfluss wird gemeinsam erforscht. Das klangliche Resultat optimiert. Gekonnt zeigt Lilly die Fermaten an. Zudem spielt sie mit der agogischen Elastizität des Chores. Eine Kraft durch ihre Person, die Lilly mit ihren zehn Jahren hervorruft und die sie bewusst auf den Alltag überträgt.
Lilly Sonneborn: "Beim Streit traut man sich vielmehr was zu sagen, weil man irgendwie gelernt hat: Jetzt nicht die Kleine! Ich traue mich nicht, sondern ich mache was. Und das hilft einem wirklich weiter."
Zum heutigen Weltkindertag kommt eine noch größere Herausforderung auf die jungen Dirigentinnen und Dirigenten von "Jugend Dirigiert" zu. Im großen Berliner Konzerthaus vor rund 1600 Zuschauern werden sie neben einem großbesetzen Chor auch noch ein Sinfonieorchester, die Junge Philharmonie Berlin, leiten. Fünf Kinder zwischen neun und sechzehn Jahren, die zum Teil Vorkenntnisse aus privatem Instrumentalunterricht mitbringen, sonst aber auch gerne Basketball spielen oder reiten.
"Also ich habe jetzt fast alle aus meiner Klasse, habe ich so eine Karte gegeben, so einen Flyer. Und ich hoffe auch, dass meine Freundinnen vom Reiten kommen."
"Wenn man als Pianistin auf die Bühne geht, dann ist man halt besonders doll auf sich allein gestellt. Man sieht: Keiner ist hinter mir. Die Augen sind nur auf einem selber. Die Aufregung ist – denke ich mal – größer. Allerdings mache ich das mit dem Dirigieren ja jetzt auch zum ersten Mal. Beim Dirigieren steht das Orchester und der Chor eher vor einem. Man fühlt sich nicht so allein auf der Bühne."
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