Jürg Halter: "Gemeinsame Sprache"

Gedichte als Mitträger unserer inneren Schwere

05:13 Minuten
Blaues Buchcover vor orange aquarelliertem Grund
Von Poetry Slams geprägt: "Gemeinsame Sprache" von Jürg Halter. © Dörlemann / Deutschlandradio
Von Björn Hayer · 20.01.2021
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Ironie und Sentiment: Jürg Halters neue Poesie spannt einen Bogen von der politischen Anklage bis zur Liebespoesie. Was alle Texte verbindet, ist Leidenschaft und der Wille zu existenzieller Unmittelbarkeit.
Wohin man schaut, herrscht Einsamkeit. Das Ich in Jürg Halters neuen Gedichten erweist sich daher als ein heimatloses, das sich von der Gesellschaft gänzlich entfremdet hat. Es sinniert und klagt: über die innere Leere, die Dekadenz, das fehlende Umweltbewusstsein, die Verselbstständigung von Robotern und Maschinen, unseren Hang zur Selbstausstellung.
Mag vielen seiner Sätze daher ein melancholischer Duktus innewohnen, geben andere wie "Wir verdienen nichts als Wachstum, das uns nachhaltig zerstören wird" oder "Wir sparen uns für die Zukunft auf, um die wir uns selbst betrügen" wiederum einen radikalen Ironiker zu erkennen.

Aufmerksamkeit für das Urmotiv der Dichtung

Den kulturellen und sozialen Verwerfungen entgegen steht immerzu die Sehnsucht. Mal klammert sich das Textsubjekt an einen "rote[n] Ballon", der es "aus der Traurigkeit lotsen" soll, mal ringt es um das echte Gefühl in durchzechten Clubnächten.
Eine besondere Aufmerksamkeit schenkt der 1980 in Bern geborene Autor dabei dem Urmotiv der Dichtung, nämlich der Liebe. In einigen Gedichten ist sie erstarrt, ihres Geheimnisses beraubt. Und manchmal scheint das Du in kosmische Weiten entrückt:
Die Nachricht, die ich mir von dir erhoffe,
beflügelt mich – bewegungslos
liege ich im Bett – ohne Zeitgefühl,
im Selbstgespräch – mit dir.
Du fehlst.

Sprachliche Expressivität

Dass sich Halter in seiner politischen wie amourösen Poesie stets lakonischer Prägnanz bedient, trägt zum wahrhaftigen Ausdruck seiner zweifelsohne berührenden Miniaturen bei. Sie sind Spiegel unserer Zeit und in zahlreichen Momenten nicht minder unserer selbst. Die Emotionalisierung, die der Lyriker mithilfe seiner beachtlichen sprachlichen Expressivität hervorruft, hängt gewiss auch mit seiner literarischen Sozialisation zusammen. Statt primär über Bücher und Verlage fand der Schriftsteller seinen Zugang zur Leserinnenschaft anfangs vor allem über Poetry Slams.
Der Lyriker Jürg Halter im Porträt.
Jürg Halter ringt in seinen Gedichten auch schon mal um das echte Gefühl in durchzechten Clubnächten.© picture alliance / dpa / KEYSTONE / Peter Schneider
Deren Prägung macht sich in Halters aktuellem Band "Gemeinsame Sprache" in eingängigen Rhythmen und intuitiv verständlichen Bildern bemerkbar. Zwar verhelfen sie zur direkten Immersion in den Text, täuschen aber nicht selten über eine gewisse Abgeschmacktheit hinweg. Sie reicht vom Kalenderspruch "Das Innerste gibt es nicht, aber es macht uns aus" bis zur banalen Alltagsformel vom "Rückenwind, der uns fehlt". Hinzu kommen ungewollte komisch anmutende Stilblüten à la "Meine Wut ist eine lackierte Hyäne, die Risse zeigt, im Foyer einer blumig renovierten Herrschaftsvilla".

Einige sprachliche Unausgegorenheiten

Obgleich ihnen einige sprachliche Unausgegorenheiten inhärent sind, kann man Jürg Halters neue Poeme mit gutem Gewissen empfehlen, zumal sie etwas auszeichnet, was nicht jeder Lyrik an sich zu eigen ist: die Unmittelbarkeit.
Die Ansprache wirkt und fördert gerade in Tagen des Lockdowns zutage, wie Poesie für uns, wenn sie Verlorenheit und Alleinsein zum Thema macht, zur Begleiterin werden kann. Das Gedicht als Anwesenheit, als Mitträger unserer inneren Schwere und Leiden – davon geben Halters Verse kund, die Hingabe und größtmögliche Passion verbinden.

Jürg Halter: "Gemeinsame Sprache"
Dörlemann, Zürich 2021
152 Seiten, 20 Euro

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