Flucht aus der Ukraine

Wie jüdische Organisationen Hilfe leisten

08:05 Minuten
Frank-Walter Steinmeier sitzt mit orthodox gekleideten Juden an einem Tisch beim Essen und spricht mit aus der Ukraine geflüchteten Kindern.
Am 7. März 2022 besuchte Bundespräsident Steinmeier das Jüdische Bildungszentrum Chabad in Berlin und traf dort auf aus der jüdischen Gemeinde Odessa geflohene Kinder. © Imago / Chris Emil Janßen
Von Carsten Dippel · 11.03.2022
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Berlin ist durch seine Lage erste Anlaufstelle für viele, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Täglich kommen Tausende Menschen an, auch jüdische Geflüchtete - darunter viele Kinder.
Nach einer dreitägigen Odyssee im Bus kamen vor einer Woche 108 Kinder aus einem jüdischen Waisenhaus in Odessa in Berlin an. Die orthodoxe Bewegung "Chabad Lubawitsch" hat diese Rettungsaktion über ihre Partnergemeinde in der Ukraine organisiert.
Unter den Kindern war auch ein gerade mal zwei Monate altes Baby. Seine verzweifelte Mutter hat es in der Hoffnung, ihr Neugeborenes möge aus der Ukraine gerettet werden, den Helfern von Chabad in dem von russischen Truppen attackierten Saporoschja in die Arme gegeben..
Nicht alle sind tatsächlich Vollwaisen, manche der Kinder zwischen 3 und 18 Jahren, haben noch einen oder beide Elternteile. Den Chabad-Verbindungsleuten wurden Kinder übergeben, deren Väter teils an der Front kämpfen müssen, während die Mütter ungewiss über ihre eigene Zukunft sind.

Quer durch Europa ging die Flucht

Die Fahrt führte durch Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien. An den Grenzen sei alles gut gegangen, sagt Jana Erdmann von Chabad Berlin, sichtlich erleichtert.
"Die Kinder waren in einem besseren Zustand als wir gedacht hätten. Sie waren sehr ausgehungert und müde, aber es gingen ihnen nach einer dreitägigen Fahrt besser, als wir gedacht hätten. Zuerst haben sie gegessen und dann haben wir sie so schnell wie möglich auf die Zimmer verteilt, Geschwisterkinder zu Geschwisterkinder. Dann konnten sie sich ausruhen."
Untergekommen sind sie derzeit noch in einem Hotel, aber nach und nach werden sie Zuflucht in Familien der Gemeinde finden.

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"Viele haben Angehörige in der Ukraine, die aus dem einen oder anderen Grund gar nicht mitkommen können. Zu schwach, zu alt oder wehrpflichtig. Sie haben nicht die Mittel, die Kinder zu ernähren. Es ist eine schwierige Situation. Der Strom fällt aus, in Städten wie Kiew, die bombardiert werden, verbringen die den ganzen Tag im Bunker."

Auf der Suche nach einem sicheren Umfeld

Auch in der Berliner Masorti-Gemeinde von Gesa Ederberg kam jetzt ein Bus mit jüdischen Flüchtlingen aus dem ukrainischen Cernowitz an. Der europäische Dachverband der konservativ-jüdischen Strömung leistet wichtige finanzielle und logistische Unterstützung.
Rabbinerin Ederberg telefoniert derzeit so oft es geht mit Reuven Stamov, dem Masorti-Rabbiner in Kiew. Nun geht es darum, sagt Ederberg, den Flüchtlingen recht bald ein möglichst gutes, sicheres Umfeld zu bieten. Unterkünfte werden besorgt, Familien helfen, die Masorti-Kita und -Schule bereiten sich vor.

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"Berlin ist erst einmal ein guter Anlaufpunkt. Da wir viele russisch- und ukrainischsprachige Gemeindemitglieder haben, sind wir vornherein gut aufgestellt."
Die vielen persönlichen Kontakte in die Ukraine, besonders über die sozialen Medien, seien jetzt von großem Wert, sagt Rabbinerin Ederberg.
"Uns ist es wichtig zu sagen: Wenn jetzt Leute aus einer Masorti-Gemeinde zu einer Masorti-Gemeinde kommen, dann fühlen sie sich gleich noch einmal in einer anderen Weise zu Hause. Aber wir sind auch absolut offen für Familien und einzelne, die einfach so von dem Angebot gehört haben."

Social Media hilft beim Organisieren

Wie wichtig die vielen persönlichen Verbindungen zur Zeit sind, erlebt auch Hanna Veiler, die Vizepräsidentin der Jüdischen Studierendenunion. Die JSUD hat jede Menge Sachspenden in Deutschland gesammelt, sie über München nach Wien zur österreichischen Partnerorganisation gebracht.
Von dort wurden die  Hilfsgüter sogar ins Kriegsgebiet hinein gefahren, bis nach Kiew. Der Onkel eines in der Organisation tätigen Studenten hat die Fahrzeuge mit seinem Unternehmen zur Verfügung gestellt. Medikamente wurden an das Ukrainische Rote Kreuz übergeben.

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Gleichzeitig organisiert die JSUD Hilfe über Instagram und Facebook, Unterkünfte für Flüchtlinge werden besorgt. Auch eine Datenbank wurde angelegt, da können sich Volunteers melden, die direkt an den Grenzen helfen wollen.

Die Orte der Kindheit werden zerstört

Der JSUD liegt aber noch ein anderer Bereich am Herzen: Die psychosoziale Unterstützung für ihre Mitglieder, von denen sehr viele einen direkten Bezug zur Ukraine haben, über das Programm OFEK.
"Für uns als Organisation ist das ein Ausnahmezustand, weil einfach so viele Personen, die uns nahestehen, die im Vorstand sitzen, die auf unsere Veranstaltungen kommen, gerade die Hölle durchmachen. Weil sie ihre Familie dort wissen, weil die Orte ihrer Kindheit zerstört werden, weil wir wissen, sie werden nie wieder in ihr Geburtsland oder in das Geburtsland ihrer Eltern zurückkehren können."

Bargeld ist im Land Mangelware

Hilfsaktionen laufen derzeit natürlich auch über die großen Organisationen, über die ZWST, IsraAid, den World Jewish Congress. Dennoch spüren die Helfer, wie entscheidend, ja lebensrettend, die vielen privaten Kontakte und persönlichen Netzwerke angesichts des immer brutaler werdenden Krieges sind.
Über soziale Medien werden Kontakte zu Menschen gesucht, die in den umkämpften Gebieten ausharren und dringend Hilfe benötigen. Fluchtrouten werden organisiert, Übernachtungsmöglichkeiten organisiert.

Auf einmal Flüchtling: Wie geht Ankommen? Zehntausende Menschen aus der Ukraine kommen jetzt in Deutschland an. In unserem Podcast "Lakonisch Elegant" sprechen wir mit der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev über unseren Umgang mit Flucht und die Perspektive der Flüchtenden.

Für die Helfer in der Ukraine wird es von Tag zu Tag gefährlicher. Die Situation vor Ort, sagt Veiler, sei extrem angespannt. Und es gebe ganz praktische Probleme.
"Was wir von jüdischen Studierenden in der Ukraine hören, ist, dass sie Bargeld brauchen. Theoretisch kommen sie an Nahrungsmittel ran, aber sie haben kein Geld, weil sie nichts abheben können. Ihre Karten funktionieren nicht."

Aufbau des jüdischen Lebens in der Ukraine

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte die große Auswanderungswelle von Jüdinnen und Juden aus der Ukraine nach Israel, Deutschland und die USA ein. Die jüdischen Menschen, die im neu gegründeten Staat Ukraine blieben – es waren bis zum jetzigen Kriegsausbruch noch schätzungsweise weit mehr als 100.000 – hatten in den Anfangsjahren meist kaum noch einen Bezug zum Judentum.
Aber nach und nach ist neues jüdisches Leben entstanden. Besonders aktiv war die Chabad-Bewegung. Sie hat in den zurückliegenden 30 Jahren überall um ihre 35 Gemeindezentren in der Ukraine eine jüdische Infrastruktur aufgebaut. Kindergärten, Talmudschulen, koschere Lebensmittelläden.
Andere Organisationen und Gemeinden haben ähnliches etabliert. Masorti hat erst vor kurzem ein neues Gemeindezentrum in Kiew eröffnet. In Uman, einer Stadt mit 90.000 Einwohnern im Süden Kiews, das das Grab des berühmten Rabbi Nachmans beherbergt, zu dem Jahr für Jahr Zehntausende Juden aus aller Welt pilgern, steht das weithin sichtbare „Menorah Center“, eines der größten jüdischen Kulturzentren der Welt. All das ist jetzt in seiner Existenz bedroht.
"Das alles wäre vor 30 Jahre nicht möglich. Die Leute haben gedacht, jetzt sind wir sicher. Und dann bricht ein Krieg über sie herein. Viele haben ja noch die Bilder von ihren Großeltern im Kopf, die selber die Bombardierung mitgemacht haben, die selber in den Keller mussten, die selber teilweise auf den Kindertransporten waren."

Die Ukraine galt als Land der Rettung

Der Krieg geht Hanna Veiler auch persönlich sehr nahe. Sie wuchs im weißrussischen Witebsk auf und kam 2005 nach Deutschland. Ein Teil ihrer Familie kommt aus der Ukraine. Dieser Krieg, sagt Veiler, werfe noch einmal neue Fragen zur Identität auf.
"Die Ukraine ist für mich immer das Land gewesen, wo es meine Familie geschafft hat, die Schoah zu überleben, weil sie sich dort verstecken konnte. Ganz, ganz viele Geschichten meiner Familie haben in der Ukraine stattgefunden."

Die psychische Belastung steigt

Auf wie viele jüdische Flüchtlinge sich die Gemeinden hier und die vielen stillen Helfer einstellen müssen, ist derzeit kaum abzuschätzen. Die Hilfsbereitschaft ist jedenfalls sehr groß.
Gemeinden wie Masorti oder Chabad und Organisationen wie die JSUD bieten alles auf, was an Unterstützung möglich ist. Das schließt auch die psychologische Hilfe mit ein.
Denn je länger dieser Krieg dauert, je brutaler er geführt wird, umso schwerer werden auch die traumatischen Erlebnisse wiegen, die die Flüchtlinge mitbringen.
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