Jüdische Studierende an deutschen Universitäten

Allein unter Nicht-Juden

09:07 Minuten
Von Imre Balzer · 21.06.2019
Audio herunterladen
Der oder die einzige zu sein – das ist eine häufige Erfahrung für jüdische Studierende. Die Gruppe "Studentim" wirkt der Vereinzelung entgegen. Die jüdische Studierendenunion will politisch etwas bewegen.
Anastassia Pletoukhina schlägt das dicke Buch auf, das vor ihr auf dem Tisch liegt und blättert zum 2. Buch Mose: "Thematisch sind wir grade dabei, dass Mosche quasi überredet wird, vom Allmächtigen, die Aufgabe des Anführers des Volkes zu übernehmen. Wer mag anfangen zu lesen?"
Die junge Frau blickt fragend in die Runde. Vier Männer und vier Frauen sind an diesem Sonntagnachmittag zum Lesen der Thora nach Berlin-Charlottenburg gekommen. Draußen zwitschern die Vögel, drinnen werden Kaffee und Schokoladenkekse herumgereicht. Es ist der Thora-Lesekreis von Studentim, einer jüdischen Studierendeninitiative aus Berlin, der hier zusammengekommen ist.
Schapiro: "Von Eins nochmal, ne? … 'Mosche erwiderte und sprach und siehe, sie werden mir nicht glauben und nicht auf meine Stimme hören, denn sie werden sagen, dir ist Gott nicht sichtbar geworden ...'"
Die meisten Teilnehmer haben ihre Bücher mitgebracht, sie kommen häufiger. Für die Neuen gibt es die Thora-Stellen ausgedruckt auf Papier. Die Gruppe trifft sich einmal im Monat. Heute geht es um Exodus 4.1 und die Bedeutung der Zeichen, die Gott aussendet.

Offen für alle jüdischen Richtungen

"Das war die Idee: Angebote für jüdische Studierende zu schaffen, die von Studierenden für Studierende angeboten werden und auch einen inklusiven und pluralistischen Charakter haben und auch verschiedene Strömungen des Judentums inkludiert werden. Das heißt, dass sich sowohl orthodoxe als auch Reformerjüdinnen und Refomerjuden zusammenfinden können und sich über akademische Themen austauschen können."
Etwa 70 Mitglieder hat der Verein. Durch Veranstaltungen wie den Tora-Lesekreis, gemeinsame Schabbat-Feiern oder Diskussionen über akademische Themen erreicht Studentim bis zu 1000 Menschen, sagt Pletoukhina.
Etwa 25.000 Jüdinnen und Juden zwischen 18 und 35 Jahren leben laut Schätzungen in Deutschland, viele von ihnen studieren. Mit welchen Problemen haben sie in der Deutschen Gesellschaft zu kämpfen? In Berlin-Charlottenburg fallen Pletoukhina da ganz praktische Probleme ein: Für orthodoxe Jüdinnen und Juden ist es ein echtes Problem, wenn Prüfungen auf Feiertage fallen. Denn unter das Arbeitsverbot am Shabbat fällt auch das Schreiben.
Pletoukhina "Einige können die Universitäten nicht abschließen, weil sie Prüfungen nur an Jom Kippur alle Jahre wieder haben und es nicht möglich ist die Prüfung zu verschieben. Wir haben Studierende, die sich gegen die jüdische Tradition entscheiden, weil sie sagen ich würde gerne Schabbat einhalten aber ich kann das nicht, weil meine Uni das mir nicht erlaubt und ich möchte nicht dafür zehn Jahre länger studieren."

Sozialwissenschaft mit Kippa, Medizin ohne

Auch Benjamin Schapiro ist zum Tora-Lesen von Studentim gekommen. Der 24-Jährige studiert Medizin und ist seit November 2018 im Vorstand des Vereins aktiv. Schapiro begann in Berlin zunächst Sozialwissenschaften zu studieren – und ging dort sehr offen mit seinem Jüdisch sein um. Im Medizin-Studium habe er jedoch aufgehört, die Kippa zu tragen. Aus persönlichen Gründen, wie er betont. Angriffe hat er nicht erlebt, allerdings: seine Kommilitonen behandelten ihn anders.
"Die Unterschiede merke ich schon, wie ich da aufgenommen werde, dass es eben was anderes ist, wenn du sichtbar durch deine Kleidung oder etwas Äußerliches erkennbar als Mitglied einer religiösen oder sonstigen Minderheit bist. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass man höflicher und formaler mit mir umgegangen ist."

Antisemitische Straftaten haben zugenommen

Bisher blieb es bei diesem Gefühl. Die Zahlen zeigen aber, dass antisemitisch motivierte Straftaten in Deutschland zugenommen haben. Die Bundesregierung meldete, dass ihre Zahl im vergangenen Jahr auf 1.799 gestiegen ist. Das sind fast 20 Prozent mehr als noch 2016. Auch an Universitäten gibt es judenfeindliche Vorfälle: Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin zählte im vergangenen Jahr neun Vorfälle alleine an Berliner Universitäten.
Anastassia Pletoukhina hat bisher keinen offenen, blanken Antisemitismus erlebt. Dafür habe sie oft eine Spannung gespürt, wenn es etwa in der Schule um die Shoah oder den Nahostkonflikt ging.
"Ich hatte früher auch immer gesagt: Ja, ne, Antisemitismus, ich weiß, dass so etwas existiert, aber ich hab das persönlich noch nie erlebt. Ich glaube, dass war eine absolute Lüge, nicht bewusst, aber das war eine Fehlinformation. Weil ich doch glaube, dass ich zu dem Zeitpunkt Antisemitismus in verschiedensten Formen so nicht erkennen und nicht betiteln konnte."
Ein Schüler der Talmud Tora Schule in Hamburg schreibt das Alphabet auf hebräisch an die Tafel. Unten steht das Wort "lernen".
Ein Schüler der Talmud Tora Schule in Hamburg schreibt das Alphabet auf hebräisch an die Tafel. Unten steht das Wort "lernen".© picture alliance / dpa
Pletoukhina promoviert im Fach Soziologie, sie ging im Studium von Anfang an offen mit ihrer Religion um. "Die Reaktion von den Studierenden mit denen ich unmittelbar was zu tun hatte, war eher: Ja okay, ist dann halt so. Nichts besonderes. Aber von der Professorin, war dann eher so: Ach, ist ja spannend, und wollen Sie nicht mal eine Arbeit dazu schreiben? So bin ich zu meiner Masterarbeit gekommen, weil sie mich darum bat, etwas zum Thema jüdische Gemeinde zu schreiben."
Pletoukhina ist im Nachhinein froh, der Bitte der Professorin gefolgt zu sein, so hat sie eine eigenen Nische gefunden. Gleichzeitig fühlte sie sich aber auch in eine Ecke gestellt. Auch Benjamin Schapiro hat die Erfahrungen gemacht, dass viele Schubladen aufgehen, wenn das Wort Judentum fällt.

"Deine Meinung ist spezifisch jüdisch"

Dem will Studentim etwas entgegensetzen: Der Verein biete einen Raum, in dem junge Jüdinnen und Juden diskutieren können, und nicht das Gefühl haben müssen, für die gesamte jüdische Community zu sprechen. Dies ist sonst vor allem bei Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt der Fall.
"Gerade was diese Themen angeht, ist es eben so, dass dann deine Meinung nicht nur als eine individuelle Meinung gesehen wird, sondern als eine spezifisch jüdische Meinung, egal in welche Richtung es geht."
Während Studentim sein Angebot in erster Linie an die jüdische Community richtet, will die Jüdische Studierendenunion (JSUD) nach außen wirken. Die JSUD versteht sich als die Interessenvertretung aller Jüdinnen und Juden zwischen 18 und 35 Jahren.
Mischa Ushakov ist seit kurzem neu gewählter Präsident der JSUD. Der 20-Jährige studiert Industrie-Design, trägt braune Locken und bittet zum Interview auf die Tischtennisplatte im Hof des JSUD-Büros in Berlin-Mitte.

"Judentum ist nichts Fremdes"

"Ein anderes Problem ist BDS am Campus. In Deutschland ist das nicht so stark ausgeprägt aber es ist grad am kommen. Linker intellektueller Antisemitismus. Ist auf den ersten Blick gar nicht antisemitisch, weil man sagt ist ja nur Kritik an Israel. Im Endeffekt, es gibt ja auch eine klare Definition wo Israelkritik aufhört und Antisemitismus anfängt. Die drei D's: Delegitimation, Dämonisierung und Doppelstandard. Und bei BDS sind alle Drei der Fall."
BDS – die Abkürzung steht für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen". Seit 2005 ruft die Bewegung international zu Boykottaktionen gegen Israel auf. Ganz generell ist der Kampf gegen Antisemitismus ein wichtiges Anliegen für die JSUD – aber:
"Unser Ansatz ist eher nicht, die ganze Zeit mahnend zu sagen, hier gibt es Antisemitismus, dort gibt es Antisemitismus. Ich glaube Judentum hat eine lange Zeit zu Deutschland gehört und mit einer kleinen Pause zwischendurch, deshalb ganz viel über ein positives Judentum-Bild. Judentum ist nichts Fremdes, Judentum ist etwas Normales und das ist es heute aufzuzeigen."
Dass der Schabbat für Jüdinnen und Juden prüfungsfrei wird, daran lässt sich konkret arbeiten. Dass hingegen das Wort "Jude" wieder ein normales Wort in Deutschland wird, das ist eine langfristige Aufgabe. JSUD-Präsident Mischa Ushakov: "Politischer Anspruch bedeutet, dass man junge Juden in die Politik bringt, jüdische Interessen, Probleme in die Politik bringt, genauso wie man Probleme von Deutsch-Türken, von Deutsch-Franzosen, von Deutsch-whatever in die Politik bringt, damit das morgen eine pluralistische Gesellschaft ist, in der sich jeder dazugehörig fühlt und die Probleme von jedem anspricht und löst."
Mehr zum Thema