Jüdische Familie aus Stralsund

Wie die Blachs wieder Menschen wurden

11:53 Minuten
Friederike Fechner hält eine historische Fotografie von Carl Blach und seinen beiden Söhnen in ihren Händen.
Friederike Fechner hat die Geschichte von Carl Blach und seiner Familie recherchiert und zahlreiche Nachfahren gefunden. © Deutschlandradio / Alexa Hennings
Von Alexa Hennings · 09.07.2021
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Über ein Haus in Stralsund fand die Cellistin Friederike Fechner zur Geschichte einer jüdischen Kaufmannsfamilie im Nationalsozialismus. Inzwischen hat sie weltweit Nachkommen der Überlebenden ausfindig gemacht und zusammengebracht.
Als die Stralsunder Cellistin Friederike Fechner und ihr Mann vor ein paar Jahren ein verfallenes Haus in der Innenstadt erwarben, stießen sie zufällig auf den dunklen, mit der Zeit des Nationalsozialismus verbundenen Teil der Stadt. Für die Sanierung dieses mehr als 300 Jahre alten hanseatischen Bürgerhauses bekamen sie 2014 den Bauherrenpreis.
Der sei mit der Auflage verbunden gewesen, die Geschichte dieses Hauses zu recherchieren, erzählt Friederike Fechner. "Da bin ich ins Stadtarchiv gegangen und habe rausgefunden, dass das Haus von 1883 bis 1934 in jüdischem Besitz war und aber der Laden, der jüdische Lederladen, noch bis 1938 bestehen durfte."
Die Familie Blach, so erfuhr die Stralsunderin, hat ihren Ursprung in Reichensachsen in Hessen. Zwei Brüder siedelten sich um 1880 in Stralsund an. Die Blachs waren Kaufleute, Händler, Rechtsanwälte und Ärzte.
Außerdem habe sie erfahren, dass der Lederwarenhändler Julius Blach sechs Kinder hatte und vier Töchter im Holocaust umgebracht wurden. Ein Sohn sei schon vor der Machtübernahme 1933 gestorben, und der jüngste Sohn 1937 mit seiner Familie auf der "St. Louis" nach New York geflohen. "In dem Moment, in dem ich das erzählt habe bei der Preisverleihung, war ich so bewegt, dass ich mich entschlossen habe, die Nachfahren ausfindig zu machen."

Hilfe von der Erben-Ermittlerin

Wie das geht, fremde Menschen am anderen Ende der Welt ausfindig zu machen, davon hatte die 59-Jährige damals keine Ahnung. Doch eine ihrer Freundinnen ist professionelle Erben-Ermittlerin und konnte mit ihrem Zugang zu Datenbanken weiterhelfen.
"Da habe ich einfach spaßeshalber gefragt: Kannst du mal bitte den Namen Friedrich Blach eingeben? Und dann hatte ich am nächsten Tag die E-Mail-Adresse des Enkels von Friedrich Blach, von Casey Blake, der Professor an der Columbia University in New York ist."
Sie schrieb Casey Blake und bekam auch schnell eine nette Antwort. Wenig später flogen die Fechners aus Stralsund zu den Blakes nach New York. Im Gepäck Kopien von Fotos und Dokumenten zur Familiengeschichte, von denen die Blachs in Amerika, die ihren Namen in Blake geändert hatten, bis dahin nichts ahnten.
Erst durch die Recherchen der Stralsunderin erfuhren sie: Es gibt noch weitere Nachfahren von Überlebenden der Familie, sie wohnen in den Niederlanden und in England. Eine dieser Verwandten ist Gaby Glassman in London. Sie kam 1950 in Amsterdam zur Welt. Ihre Mutter, Rosemarie Blach, hatte gemeinsam mit ihrem Mann in einem Versteck in Amsterdam den Holocaust überlebt. Ihre Heimatstadt Stralsund hatte die Mutter nach dem Krieg nie wieder besucht, erzählt Gaby Glassman:
"Sie hat die Stadt geliebt, so eine wunderschöne Stadt. Ich bin zweimal, 1992 und 1995 nach Stralsund gefahren und habe ihr noch davon erzählt. Aber sie hätte nie selber die Reise machen können. Weil sie einfach zu geschädigt war vom Antisemitismus."
Friederike Fechner steht vor der sanierten, orange farbenen Fassade des ehemaligen Hauses der Familie Blach.
Dieses Haus restauriert Friederike Fechner mit ihrem Mann - und erschloss eine ganze Familiengeschichte.© Deutschlandradio / Alexa Hennings
Die Demütigung begann früh: Schon 1920 durfte die zehnjährige Rosemarie Blach nicht Mitglied des Stralsunder Tennisklubs werden, weil sie ein jüdisches Mädchen war.
"Sie hat dann Medizin studiert, aber als sie nach Stralsund zurückkam, haben manche Leute sie nicht gegrüßt. Das war der Anfang davon, sie als Untermensch zu behandeln."
Gaby Glassmans Großeltern, die in Stralsund ein Modegeschäft betrieben, konnten – wie Gaby Glassmans Eltern auch – nach Amsterdam flüchten. Ihr Versteck wurde jedoch verraten, sie wurden im KZ Sobibor ermordet.

Nie von Bergen-Belsen erzählt

Gaby Glassmans Halbbruder Peter wurde nach Bergen-Belsen deportiert. Der damals Achtjährige überlebte das Konzentrationslager. Auch seine Geschichte hat Friederike Fechner recherchiert. Seiner eigenen Familie hatte der heute 86-jährige Peter Weishut nie davon erzählt.
"Wenn so lange geschwiegen wurde, dann ist es schwierig, davon anzufangen", sagt Gaby Glassman. "Aber Friederike hat den Mut gehabt, um nach Amsterdam zu fahren und ihn zu interviewen. Er hat noch nie so etwas gemacht."
Vielleicht musste dafür erst eine Deutsche kommen, eine Deutsche aus Stralsund. Ein Mensch, der sich aufrichtig und mitfühlend interessiert und sich um ein kleines Stück Wiedergutmachung bemüht.
"Das ist wirklich einfach sehr bewegend, wie positiv diese Arbeit von den Nachfahren wahrgenommen wird", erklärt Friederike Fechner. "Ich glaube, das trägt auch sehr zur Heilung bei, weil die Wunden mitnichten geheilt sind." Deshalb sei es sehr wichtig, mit den Betroffenen zu sprechen oder einfach zu versuchen, einen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen.

Nachfahren kommen nach Stralsund

2018, zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht und der Kindertransporte, gab die Cellistin Friederike Fechner in einer Synagoge in London ein Konzert. Das ist noch heute auf YouTube zu sehen.
In der dortigen jüdischen Gemeinde hat sie über ihre Forschungen zur Familie Blach gesprochen. In Stralsund organisiert sie Veranstaltungen zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger, spricht vor Schülern und Marinesoldaten, in Vereinen und Klubs in ganz Mecklenburg-Vorpommern. Schon einige Nachfahren der Blach-Familie hatte sie in Stralsund zu Gast, auch Gaby Glassman.
"Im November 2017 hat Friederike mich eingeladen, nach Stralsund zu kommen und meine Familiengeschichte zu erzählen und auch von meiner Arbeit als Psychotherapeutin", erzählt Glassman. "Mein spezielles Interesse ist die transgenerationale Übertragung von Kriegserfahrungen von den Eltern auf die Kinder."
Die Veranstaltung fand in einer alten Kirche statt. "Es war für mich einfach unglaublich", sagt Gaby Glassman. "Es war voll dort und die Leute waren wirklich interessiert. Und als mein Mann das Kaddisch-Gebet gesagt hat, das Erinnerungsgebet an die Toten, sind alle Leute aufgestanden! Aus Respekt. Ich fand das ganz besonders." Sie sei Friederike sehr dankbar. Ihre Mutter hätte sich sehr gefreut, dass die Familie wieder im Bewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner Stralsunds war.

Preisgekröntes Engagement

2020 bekam Friederike Fechner den Obermayer-Preis. Er wird von einer amerikanischen Stiftung an Menschen vergeben, die sich ehrenamtlich der jüdischen Lokalgeschichte widmen. In diesem Jahr folgte das Bundesverdienstkreuz.
Und das Engagement geht weiter: Die Musikerin gründete die "Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund". Gemeinsam arbeiten sie dort an einem digitalen Gedenkbuch, in dem die Geschichte aller 200 jüdischen Stralsunder Familien verzeichnet werden soll.
Drei Stolpersteine der Familie Blach.
Drei Stolpersteine erinnern in Stralsund an die jüdische Familie Blach.© Deutschlandradio / Alexa Hennings
Das Stammhaus der Familie Blach in der Heilgeiststraße 89, das schon zu DDR-Zeiten nur noch eine Ruine war, ist heute mit seiner orangefarbenen Barock-Fassade ein Schmuckstück der Weltkulturerbestadt Stralsund. Im Haus des jüdischen Lederwarenhändlers, das Friederike und Martin Fechner 2014 restaurierten, gibt es heute Mietwohnungen, einen Wein- und einen Teeladen.

"Einer höheren Gewalt weichen"

Im Hausflur hat Friederike Fechner Tafeln zur Geschichte des Gebäudes und der Familie anbringen lassen. Darunter der letzte Eintrag ins Geschäftsbuch von Carl Blach, der 1938 seine Lederwarenhandlung schließen musste, weil er Jude war. Sie ist jedes Mal wieder bewegt, wenn sie diese Zeilen liest.
"Euch Toten, die ihr eure ganze Kraft dem Geschäft gewidmet habt, rufe ich zu, dass ich schuldlos bin an dem Niedergang eures Lebenswerkes. Dass ich mich stets bemüht habe, dasselbe in eurem Sinn zu erhalten, dass ich aber einer höheren Gewalt weichen musste. Stralsund, den 21. Juni 1938, Carl Blach, ehemaliger Inhaber der Firma Gebrüder Blach."
Carl Blach überlebte in Berlin, geschützt durch eine Ehe mit seiner zweiten Frau, die keine Jüdin war. Zwei seiner Söhne wurden in Auschwitz vergast. Gaby Glassman in London, eine Nachfahrin der Familie, ist berührt davon, dass man in Stralsund die Geschichte jüdischer Mitbürger nicht vergisst.
"Wenn man daran denkt, dass sie Menschen waren, die einfach so lebten wie andere Stralsunderinnen und Stralsunder auch, dann denkt man: Was war eigentlich los? Warum mussten sie deportiert werden? Es ist ja überall so, dass Antisemitismus jetzt wieder eine größere Gefahr geworden ist."
Deshalb sei die Arbeit von Friederike Fechner so wichtig: "Friederike gibt meiner toten Familie wieder ihre Identität zurück. Sie werden wieder Menschen! Sie wurden zu Untermenschen gemacht. Aber jetzt sind sie durch Friederike wieder Menschen geworden."
(abr)
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