Judith Schalansky: "Atlas der abgelegenen Inseln"

Wenn Poesie zum Kopfkino wird

Die Schriftstellerin Judith Schalansky bei einem Gespräch im Stuttgarter zoologisch-botanischen Garten Wilhelma
Die Schriftstellerin Judith Schalansky © imago / Lichtgut
Von Georg Gruber · 14.11.2016
Es gehört zu den Büchern, die man nicht vergisst: Der "Atlas der abgelegenen Inseln" von Judith Schalansky ist jetzt als Hörspiel erschienen. Eine Komposition aus Musik, Geräuschen und Stimmen, die der Regisseur Thom Luz zunächst für das Staatsschauspiel Hannover inszenierte.
"Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch" – überschrieb Judith Schalansky das Vorwort zum "Atlas der abgelegenen Inseln" , diesem bezaubernden Buch mit seinen manchmal fast schon verstörenden Geschichten, die Judith Schalansky in poetischer und zugleich dokumentarisch karger Sprache erzählt. Geschichten wie die von den Kokos-Inseln, auf denen August Gissler vor über 100 Jahren nach dem Raubgold von Kaperfahrten suchte.
"Als er 1905 diesen Flecken umgegrabener Erde für immer verlässt, reicht ihm sein Bart bis zur Hüfte. 16 Jahre hat er hier verloren. Alles was er fand, waren 30 Golddukaten und ein goldener Handschuh. Kurz bevor er am 8. August 1935 in New York stirbt, sagt er noch: Ich bin sicher, es liegen große Schätze auf der Insel. Aber es wird Zeit und Geld kosten, sie zu heben. Wenn ich jung wäre, würde ich noch einmal von vorne anfangen."

Blutendes Zahnfleisch, eiternde Wunden

Oder die vom Clipperton Atoll, auf der eine Garnison stationiert war, mit 14 Männern, sechs Frauen und sechs Kindern.
"Kein Schiff kommt, keins aus Acapulco, keins von sonst woher. Die Vorräte gehen zur Neige. Skorbut bricht aus: Das Zahnfleisch blutet, die Wunden eitern, die Muskeln schwinden, die Gliedmaßen faulen, das Herz versagt. Die Toten vergraben sie tief, um sie vor der Gier der Krebse zu schützen. Irgendwann erträgt der Gouverneur das Kreischen der Seevögel und das Rauschen des Meeres nicht mehr."
Judith Schalansky fand bei ihren Recherchen Inseln, denen man, wie sie selbst sagt, "wünschen würde, sie wären unentdeckt geblieben". Thom Luz hat diese manchmal fast schon alptraumhaften Fundstücke für das Staatsschauspiel Hannover in einem historischen Treppenhaus auf drei Stockwerken inszeniert.
"Eltern bekommen keine Kinder mehr, wenn ihr ältester Sohn alt genug ist zum Heiraten, dann fragt der Mann seine Frau: Wessen Kind ist es, für das ich Essen vom Feld holen muss. Er entscheidet,ob das Kind leben darf: Die Plantagen sind klein, lasst uns das Kind töten, denn wenn es lebt, wird es keinen Garten für ihn geben.

Viel Luft und Raum für Assoziationen

Beatrice Frey, Günter Harder, Sophie Kraus und Oscar Olivio sprechen nun auch die Texte für diese ungewöhnliche Hörspielproduktion, mit viel Luft und Raum für die Worte, damit Zeit bleibt, den eigenen Assoziationen folgen zu können. Hier trifft es einmal wirklich zu: Kopfkino. Denn Judith Schalansky hat keine dieser Inseln selbst bereist. Erfunden hat sie nichts, was aber nicht bedeutet, dass alles, was sie fand, sich auch wirklich so zugetragen hat:
"Die Jugend der drei Dörfer trifft sich nach Einbruch der Dunkelheit am äußeren Strand. Dort raufen sie, tanzen, singen und schlafen miteinander. Das Zusammenkommen von mehr als zwei Menschen ist dabei üblich. Sex ist ein Spiel."
Das Buch endet mit einer unbewohnten Insel im Antarktischen Ozean. Die Hörbuchproduktion ist da didaktischer: Letzte Station der Reise ist Takuu, im Pazifischen Ozean. Denn auch Paradiese, die keine sind, sind vom Untergang bedroht.
"Die Jungen denken an nichts – weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit. Den ganzen Tag lang trinken sie den Saft der Kokospalme, der im heißen Sonnenlicht vergoren ist. Die Baumkronen hängen voll von Plastikflaschen. Takuu wird versinken, nächsten Monat, nächstes Jahr."

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln
Ein musikalisches Hörstück von Thom Luz,
Christoph Merian Verlag, Basel 2016
1 CD, 53 Minuten, 18,90 Euro

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