Judenfeindlichkeit in Niedersachsen

"Schule könnte der beste Ort für Antisemitismusprävention sein"

Schüler in einer Klasse, ein Schuljunge schreibt in ein Heft.
Jedes Kind, das zur Schule geht, hat das Recht darauf, sich sicher fühlen zu können", sagt der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne. © imago/Westend61
Von Ita Niehaus · 17.07.2018
Immer wieder wird in den Medien über judenfeindliche Beleidigungen und Übergriffe an Schulen berichtet. Das Antisemitismus-Problem ist komplex: Es geht um Stereotype, den Nahost-Konflikt, Lücken im Lehrplan und überforderte Schüler und Lehrer, zeigt der Blick auf Niedersachsen.
Die Integrierte Gesamtschule, kurz IGS, Kronsberg – am Stadtrand von Hannover. Es ist eine von mehr als 300 Schulen in Niedersachsen, die zum Netzwerk "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" gehören. Viele der rund 1200 Schüler stammen aus Einwandererfamilien.
Auch an der IGS Kronsberg setzen sich die Schüler mit den Themen Holocaust und Antisemitismus auseinander – meistens im Geschichtsunterricht. Dann kommen manchmal Äußerungen, die Yvonne Unger, Fachbereichsleiterin für Gesellschaftslehre, nicht gefallen.
"Es geht im Grunde genommen von Holocaust-Leugnung über 'Die Juden sind ja vielleicht selber schuld' und natürlich auch diese angeblichen Charaktereigenschaften, die Juden heute immer noch zugewiesen werden. Wie reich, rachsüchtig, gierig."

Schüler aus dem arabischen Raum sind befangen

Religiöses Mobbing aber hat die engagierte 51 Jahre alte Lehrerin noch nicht unter den Schülern erlebt. Auch Horst Audritz, Vorsitzender des niedersächsischen Philologenverbandes, ist bisher kein Fall bekannt. Er hat aber u.a. beobachtet, dass manche Schüler bei diesem Thema befangen sind.
"Es gibt da noch Schüler, die aus dem arabischen Raum kommen, da merkt man, dass an der Diskussion nicht teilgenommen wird. Es ist eine Unsicherheit, was man an Meinungen sagen darf. Da merkt man, dass es unangenehm ist und dass Geschichte nicht verarbeitet worden ist. Oder gerade die jüngeren deutschen Schüler - 'Das geht mich nichts mehr an'. 'Das ist vergangen' oder 'Ich soll an irgendwas Schuld haben.'"
"Wir finden unter den Schülern nur ganz wenige wirkliche Antisemiten. Es ist eher so, dass immer wieder antisemitische Stereotype auftauchen. Aber was auch ganz häufig vorkommt, ist der Hass auf Israel. Also Israel als das Böse schlechthin, das den Weltfrieden bedroht – das finden Sie an den Schulen auch, wie überall in der Gesellschaft."

Anfeindungen werden nicht systematisch dokumentiert

Wolfram Stender ist Antisemitismusforscher an der Universität Hannover. Wie weit verbreitet Judenfeindlichkeit an Schulen ist – darüber gibt es keine konkreten Zahlen. Nach einer Studie des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung hat fast jeder dritte Schüler an Hauptschulen antisemitische Einstellungen, in Gymnasien dagegen nur jeder achte. Auch in Niedersachsen werden Anfeindungen jüdischer Schüler nicht systematisch dokumentiert. Der Niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne ist sich aber sicher, dass Niedersachsen da keine Sonderrolle einnimmt.
"Es wird solche Vorfälle, ob niedrigschwellig oder offenkundig, auch geben. Wir können keinen Anstieg momentan festmachen."
Das können auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Philologenverband und der Landesschülerrat nicht. Kultusminister Tonne nimmt die Sorgen vieler jüdischer Schüler und Eltern dennoch ernst.
"Ich glaube, dass wir schon mitnehmen können, dass die gefühlte Sicherheit eher absinkt. Das ist ein Zustand, den finde ich inakzeptabel. Das gilt für die Gesellschaft in Gänze und das gilt erst recht für Schule. Jedes Kind, das zur Schule geht, hat das Recht darauf, sich sicher fühlen zu können."

Muslimischer Antisemitismus nimmt zu

Die meisten offiziell gemeldeten antisemitischen Übergriffe werden dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet. Muslimischer Antisemitismus nimmt jedoch zu. Die Angst in der jüdischen Community wird größer, sagt Katharina Seidler, die Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen.
"Ich habe jetzt gerade eine Familie, deren Sohn schwer gemobbt worden ist von drei syrischen Kindern und der mir dann am Telefon sagt, ich bin so schockiert."
Yilmaz Kilic, der Vorsitzende des Islamverbandes DITIB Niedersachsen und Bremen, beobachtet ebenfalls: es gibt mehr Antisemitismus unter Muslimen.
"Darüber müssen wir in den Gemeinden offen reden. Auch bei Jugendlichen. Jugendliche pauschalisieren und sagen, 'Siehste, das ist der jüdische Staat und die ermorden, bomben unsere muslimischen Brüder'. Dann geht es Richtung Antisemitismus. Das müssen wir differenzieren, das ist unsere Aufgabe, wir tun es schon. Das können viele Flüchtlinge nicht, das können viele Muslime, die hier in Deutschland aufgewachsen sind, ebenfalls nicht."

Ablehnung gegen Israel wird oft auf alle Juden übertragen

Viele Experten sind sich aber einig: Die Ursache für die judenfeindliche Einstellung unter Muslimen liegt nur selten in der Religion, sondern vielmehr im ungelösten Nahostkonflikt. Die Ablehnung gegen Israel werde z. B., so Wolfram Stender, häufig auf alle Juden übertragen. Doch man kann auch etwas dagegen tun, hat Yvonne Unger im Schulalltag festgestellt.
"Wenn man den Weg klar macht, man ist in einer anderen Kultur mit gewissen demokratischen Werten, dass diese Werte gelehrt werden müssen. Fast alle Schüler nehmen es auf."
Antisemitismus ist kein neues Problem. Bereits vor acht Jahren etwa hat Wolfram Stender eine Studie über antisemitische Vorurteile an einigen Schulen in Hannover gemacht. Aufgefallen ist ihm dabei auch, wie unterschiedlich Schüler und Lehrer die Situation wahrnehmen.
"Man hat manchmal den Eindruck, als würden da zwei Welten existieren. Die Schüler haben sehr offen mit uns über dieses Problem gesprochen, während die Lehrer und Lehrerinnen es häufig verneint, bagatellisiert haben."
Warum das so ist? Erklärungsversuche von Yvonne Unger von der IGS Kronsberg und Andre Brinkmann, dem Vorsitzenden des Landesschülerrates Niedersachsen:
"Ich glaube, Schüler passen sich auch gut an der Umwelt an. Und sie wissen auch, wenn ich das sage, könnte ich vielleicht Probleme bekommen. Daher ist es umso wichtiger, weil eben diese 20 Prozent an antisemitischer Einstellung einfach vorhanden sind in der Gesellschaft, dass man nicht über diese Themen schnell hinweg geht."
"Ich glaube, dass das Lehrer oft gar nicht mitbekommen, da die Aufsicht an Schulen das gar nicht alles abdecken kann. Viele Schüler, die davon vielleicht betroffen sind, trauen sich auch gar nicht, sich dazu zu äußern, dass diese Fälle vorgekommen sind. Da die Angst einfach zu groß ist, dass es noch mehr passiert."

"Da müssen Lehrer einfach auch gestärkt werden"

Andre Brinkmann hat den Eindruck, dass Lehrer manchmal mit der Situation nicht richtig umgehen können.
"Im ersten Moment sind sie ein bisschen überfordert damit, wie sie reagieren sollen. Und da müssen Lehrer einfach auch gestärkt werden, vielleicht auch mit einer Fortbildung, mit Aufklärung im Unterricht, dass so etwas unterbunden wird oder dass Lehrer auch besser reagieren können."
"Es fehlt natürlich einmal viel an Hintergrundwissen, da wird schon viel von den Lehrern erwartet. Und jetzt auch noch die Israel-Problematik, die Nahost-Problematik."
Sagt Yvonne Unger. Überfordert hat sich die Pädagogin im Klassenzimmer trotzdem noch nicht gefühlt. Ihr Rat: die Schüler aufzuklären durch Fakten und dabei auch historisch zu argumentieren.
"Die Schüler sind schon sehr erschrocken, wenn man sagt, wie viel Prozent es damals waren, wie viel Prozent heute. Das ist dann schon für die Schüler überraschend, weil medial oder im Internet wird natürlich eine andere Darstellung gezeigt. Die Juden seien angeblich überall und seien für vieles schuld."

"Schule könnte der beste Ort für Antisemitismusprävention sein"

Auch das Land Niedersachsen setzt vor allem auf Aufklärung und Prävention, unterstützt, so Kultusminister Grant Hendrik Tonne, unter anderem die Gedenkstättenarbeit.
"Natürlich muss man immer schauen, gibt es einen Bedarf an Weiterentwicklung, von Ausbau. Ich glaube nicht, dass wir schlecht aufgestellt sind. Da gibt es gute Angebote, sehr engagierte Kräfte, die da auch die Fort- und Weiterbildung vorantreiben."
Wolfram Stender reicht das nicht aus. Seine Kritik:
"Schule könnte der beste Ort für Antisemitismusprävention sein, ist es aber nicht. Weil die Lehrer in ihrer Ausbildung wenig mit diesem Thema zu tun haben. Und insbesondere Antisemitismus nach 1945 gehört nicht ins Schul-Curriculum, ist da nicht verankert. Ein weiteres Hindernis: dass die Schulbücher schlecht sind, es wird wenig über die Geschichte des Judentums mitgeteilt. Also – da wäre viel zu tun, ist auch immer wieder gefordert worden in den letzten zehn Jahren."
Die IGS Kronsberg in Hannover möchte künftig die Schüler noch mehr für demokratische Prozesse sensibilisieren. Yvonne Unger wünscht sich vor allem eines: mehr Zeit.
"Wir haben so viel an guten Materialien, Filme, so viele Institutionen, die man abrufen könnte. Es gibt auch genügend Gelder für Fortbildungen. Das hilft aber alles nichts, wenn der Lehrer es zuhause hat, kann es aber nicht aus Zeitmangel mit den Kindern in Ruhe durcharbeiten."
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