Israel lockt die Jungen
Viele Schweizer Juden zieht es nach Israel - traditionsreiche Gemeinden wie die in Basel schrumpfen deswegen. Ein Grund für die Abwanderung: Es fehlt das Gefühl, zur Schweizer Gesellschaft dazuzugehören. Offener Antisemitismus ist selten, die Ausgrenzung eher subtil.
Die Israelitische Gemeinde Basel (IGB) ist stolz auf ihre 150 Jahre alte, prachtvolle Synagoge mit den beiden golden schimmernden Kuppelspitzen, die älteste in der Schweiz.
Gemeinderabbiner Moshe Baumel ist besonders darauf stolz, dass man hier nicht nur am Shabbat, sondern zweimal täglich einen vollständigen Gottesdienst abhalten kann. Denn das nötige Quorum von mindestens zehn anwesenden mündigen Männern oder Minjan wird erfüllt. Das gelingt in Deutschland nicht einmal in viel größeren Gemeinden, erzählt Moshe Baumel.
"Der Unterschied ist aber der, dass hier eine durchgehende Tradition bestanden hat ohne die Shoah, was dafür gesorgt hat, dass viele Gemeindemitglieder mit der Gemeinde verbunden sind und deshalb auch, wenn das auch nur eine kleine Gemeinde ist von rund tausend Gemeindemitgliedern ist der Prozentsatz der Mitglieder, die sich am Gemeindeleben beteiligen, nicht nur am religiösen, sondern allgemein, ist ein sehr hoher."
"Viele junge Leute gehen nach Israel und bleiben dort"
Dennoch ist man bei der IGB besorgt. Denn seit Jahren geht die Mitgliederzahl zurück. Als Guy Rueff, bis vor kurzem Gemeindepräsident, noch jung war, zählte die Gemeinde 2.500 Mitglieder, heute sind es nur noch 940. Rueff sieht zwei Gründe dafür:
"Das ist einerseits der Abgang vieler jungen Juden nach Zürich als Hotspot, wenn man so will, des jüdischen Lebens in der Schweiz. Und das zweite Problem, das wir hier haben, ist, dass die Werbung für Israel in Basel sehr gut angekommen ist… und entsprechend haben wir sehr viele Basler, die nach Israel ausgewandert sind inzwischen."
In Basel fand im Jahr 1897 der erste Zionistenkongress statt, der als die Grundlage für die Staatsgründung Israels gilt. Manche Folgen dieser stolzen Tradition erlebt Iris Sobol-Bloch, bis November Vizepräsidentin der IGB, in ihrer Gemeinde:
"Erstens haben wir hier den Bnai Akiva, das ist ein Jugendbund, der ist sehr zionistisch eingestellt. Die meisten Jugendlichen, und das geht über alle Jahre hinweg, auch früher, gehen nach dem Abitur für ein-zwei Jahre nach Israel. Sehr oft und jetzt immer mehr bleiben sie dort hängen: Sie studieren da noch, dann lernt man ein Mädchen oder einen Jungen kennen, man heiratet und – weg sind sie. Das Leben in Israel ist hart, man ist immer in Gefahr. Aber wenn man dort lebt, spürt man das so nicht. Was jetzt natürlich die Problematik ist, dass sehr viele junge Leute nach Israel gegangen sind und dort blieben, dort verheiratet sind. Deren Eltern werden jetzt pensioniert. Die gehen jetzt auch langsam."
Ausgrenzung als Auswanderungsgrund
Guy Rueff kennt dieses Problem aus der eigenen Familie. Auch sein Sohn ging vor drei Jahren nach Israel, um eine jüdische Lebenspartnerin zu finden. Inzwischen hat der Sohn geheiratet und ist Vater geworden.
"Einerseits freut man sich, dass er glücklich ist dort drüben; Zweitens ist das für Israel OK, das ist eigentlich das Ziel, dass die Juden einen Staat haben… Und das weinende Auge ist, dass die Gemeinden in Europa darunter leiden, und entsprechend das Gemeindeleben in Europa in gewissen Orten zumindest abnimmt und die Überalterung leider fortschreitet. Das ist auch in anderen Gemeinden, nicht nur in Basel."
Die meisten Basler Juden leben inzwischen in Israel. Ein Trost für Guy Rueff, für den die Treue zum lokalen Fußallklub FC Basel eine zweite Religion sei. Basler Juden wandern aber nicht wegen des Antisemitismus aus, betont Guy Rueff. Es ist die Ausgrenzung durch die Schweiz, die Schweizer Juden zur Auswanderung treibt, sagt Erik Petry, Mitbegründer und Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Uni Basel. Der deutsche Historiker lebt seit 20 Jahren in der Schweiz.
"Das Jüdischsein ist so stark, da scheint es das Schweizersein zu überlagern. Also wenn man Schweizer Staatsbürger ist und jüdisch, dann ist man erst mal jüdisch. In der Wahrnehmung der Schweizer Gesellschaft ist man jüdisch."
"Es gibt eine subtile und ausgrenzende Gewalt"
Was fehlt den Juden im wirtschaftlich blühenden, multikulturellen und friedlichen Basel, dass sie ins bedrohte Israel ziehen? Erik Petry:
"Es fehlt schlussendlich das Gefühl, das einem die Gesellschaft vermittelt, dass man auf eine Form dazu gehört, die nicht immer so ein kleines 'aber' irgendwie noch hat. Nicht in der Form der Gewalttätigkeit, das ist in der Schweiz ganz wenig der Fall. Aber es gibt so eine subtile ausgrenzende Gewalt. Die geht über Sprache, die geht über Verhalten.
Beispiel ist: Eine Mutter möchte ihre Tochter für den Yom Kippur vom Schulunterricht befreien. Sie ruft also in der Schule an und erklärt: 'Yom Kippur, höchster jüdische Feiertag. Sie möchte gern, dass ihre Tochter an dem Tag frei hat'. Worauf die Antwort ist: 'Ja, aber Sie wissen schon, dass wir für Palästina sind'."
Dem Historiker sind die heftigen Debatten in den 1990er Jahren über Bankkonten von in der Shoah ermordeten Juden noch immer präsent. Damals wurden Schweizer Juden in der Öffentlichkeit auf einmal als "Juden in der Schweiz" bezeichnet:
"Was suggeriert, 'das sind also Juden und die sind jetzt hier in der Schweiz. Gehören die hierher? Dürfen die hier sein'?"
Sicherheit auf eigene Kosten
Ende Oktober verkündete die Basler Regierung ihren Willen, die Polizei um acht bewaffnete Sicherheitsassistenten aufzustocken, um die Polizeipräsenz bei jüdischen Institutionen zu erhöhen. Somit könnte die jüdische Gemeinde künftig ihre eigenen Sicherheitskosten deutlich senken. Jetzt muss noch das Parlament des Kantons, der sogenannte "Große Rat", dies bewilligen.
Am Eingang des Gemeindezentrums in Basel steht ein junger Sicherheitsbeamter.
"Herr Rueff? Bitte warten. Ja, er ist da. Bitte schön."
Die Sicherheit ist in den letzten drei Jahren ein großes Problem für die IGB geworden, weil die Gemeinde nach den Terroranschlägen im benachbarten Frankreich die Sicherheitsvorkehrungen verstärkte. Für diese Kosten muss sie selbst aufkommen und schreibt daher Jahr für Jahr eine knapp halbe Million Euro Verlust.
Die Bundesregierung und der Kanton schoben die Verantwortung für die Finanzierung der Sicherheit der jüdischen Institutionen hin und her. Währenddessen setzten sich christliche Institutionen für die IGB ein, erzählt Guy Rueff.
"Das ist eine sehr schöne Nebengeschichte, aber auch sehr erfreulicher Moment in dieser ganzen erfreulicher Nebengeschichte. Ja, das sind die Mönche in Mariastein, eine kleine Gemeinschaft von Mönchen, die da oben in einem großen Kloster wohnen. Und die hatten die Idee, als sie hörten, dass man uns nicht schützen will oder nicht bezahlen will zumindest, dass sie da ihrer Gemeinde das vorgetragen haben und dann kamen durch eine Sammlung wirklich sehr schöne Beträge. Inzwischen sind es über 10.000 Franken zusammen."
Offene Anfeindungen haben weder Guy Rueff noch Rabbiner Moshe Baumel bisher erlebt.
"Ich gehe in der Stadt fast täglich mit meiner Kippa und noch niemals ist irgendwas passiert, noch niemals wurde mir irgendetwas gesagt und ich muss auch sagen, noch niemals wurde ich komisch angeschaut. In Deutschland gibt es Orte, wo es gefährlich ist, mit der Kippa zu gehen. Und dann gibt es Orte, wo es nicht gefährlich ist, aber man wird angeschaut, weil das unüblich ist. Und hier in der Schweiz, ich bin einfach ein ganz normaler Mensch, wie alle anderen."
Die Israelitische Gemeinde Basel bemüht sich darum, neue Mitglieder zu gewinnen, auch mit dem Versprechen, dass Juden in der Schweiz sicher leben können, ganz gleich, ob sie orthodox, liberal oder säkular sind. Rabbiner Baumel wirbt um orthodoxe Juden mit dem sogenannten Eruv, Hebräisch für 'Mischung'. Man schafft durch bauliche Maßnahmen eine Art Shabbatzaun um die Gegend herum, wo orthodoxe Juden leben.
Ein solcher kaum sichtbarer Zaun kostet umgerechnet 90.000 Euro. Er wird kaum einen Basler Juden davon abhalten, nach Israel auszuwandern. Er soll vielmehr neue jüdische Zuwanderer in die Gemeinde locken.
Für weltliche Juden gründet die IGB zusätzlich einen "Willkommensdienst", der es ihnen ermöglichen soll Arbeit, vor allem in der in Basel florierenden Pharmaindustrie, zu finden. Das Projekt soll 2019 beginnen.