Joyce Carol Oates: „Babysitter“

Die Mechanismen der Gewalt

19:44 Minuten
Joyce Carol Oates: „Babysitter“
© Ecco Verlag

Joyce Carol Oates

Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz

BabysitterEcco Verlag, Hamburg 2024

624 Seiten

24,00 Euro

Von Undine Fuchs · 24.03.2024
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In ihrem Roman „Babysitter“ spürt die US-Autorin Joyce Carol Oates den Möglichkeitsbedingungen von Gewalttaten nach. An der Schnittstelle von Kriminalgeschichte, Psychogramm und Milieustudie entwickelt sie einen mitreißenden Strudel der Brutalität.
Am Mittag des 8. Aprils 1977 tritt eine Frau an die Rezeption des Detroiter Renaissance Grand Hotels. Ihre Nervosität verbirgt sie sorgsam hinter der Uniform des Luxus. Saint Laurent-Pumps zieren ihre Füße, verheißungsvoll glitzert das Messingschild der Handtasche: Prada. Noch könnte Hannah Jarrett umkehren. Stattdessen entfaltet sie den von Y.K. am Empfang hinterlegten Zettel, liest die darauf gekritzelte Zimmernummer – 6183 – und begibt sich auf den Weg zu den Aufzügen.
„Im einundsechzigsten Stock des Hotels erwartet er sie. Kein Name für ihn, bei dem man annehmen kann, dass er stimmt. Sie weiß sehr wenig über ihn, bei dem man annehmen kann, dass es stimmt. Sie weiß: er, ihn. Das genügt.“
Was hofft Hannah in der Affäre über den Dächern Detroits zu finden – sechzehn Meilen entfernt von ihrem komfortablen Haus im vermögenden Stadtteil Far Hills? Einen Ausbruch aus dem im Wohlstand geordneten Kalenderkästchenleben, das sie mit dem Ehemann Wes und den zwei Kindern teilt? Das Gefühl, mehr zu sein als Mutter und Ehefrau? Einen Verbündeten in der vorstädtischen Isolation?

Liebe = Leistung?

All diese Antworten bietet der Roman an. Vor allem aber scheint es die aufrichtige Zuneigung zu sein, die Hannah fehlt. Oates zeichnet das Bild einer Frau, die glaubt, etwas leisten zu müssen, um geliebt zu werden – immer bleibt die Angst, einen Fehler zu begehen. Zwischen Wes und ihr herrscht seit Jahren Befangenheit. Und selbst bei der Maßregelung ihrer eigenen Kinder lebt sie in permanenter Furcht, deren Liebe zu verlieren. So ist es – wie so oft – der vollkommen Fremde, der endlich sie als Frau (neu) erkennen soll:
„Und doch durchströmt Hannah eine wilde Freude. So wild, dass sie ihr Tränen in die Augen treibt … Ich habe einen Geliebten … Sie lacht, frohlockt. Ist von Stolz erfüllt: staunt. Sechzehn Meilen von ihrem Haus in der Cradle Rock Road entfernt, wo man sie als Ehefrau kennt, als Mutter. Das kleine Frauchen, die gute Mommy.“
Wenngleich Hannah über weite Strecken des Romans im Fokus des Erzählens steht, hält Oates ihre Leser zunächst auf Abstand zu ihrer Protagonistin.
Deutlich wird vor allem eines: Hannah Jarrett hat all diese Varianten ihrer selbst – die freundliche Nachbarin, die charmante Ehefrau, die liebende Mutter – akribisch erschaffen, getrieben von der Sehnsucht nach Teilhabe in Far Hills. Während sie selbst hinter diesen Rollen bis zum Ende ein Stück weit ungreifbar bleibt, wird genau in dieser Schemenhaftigkeit das Bild einer Frau sichtbar, die an dem zu zerbrechen droht, was sie am meisten begehrt. Ihr unbedingtes Bedürfnis nach Zugehörigkeit avanciert zum Fundament der Isolation.  
Denn sie hat niemanden. Nicht einen in ihrem jetzigen Leben. Ihre Freundschaften in Far Hills sind keine engen, es gibt niemanden, bei dem sie sich darauf verlassen könnte, dass er nicht lieblos über sie spricht. Und Wes ist nicht ihr Freund. Ein Ehemann kann nicht der Freund seiner Frau sein.“
Bereits in vorausgegangenen Werken lotete Oates aus, was Intimität bedeutet: So in „Der Mann ohne Schatten“ – einer Erzählung über die Liebe eines Menschen, der alle 70 Sekunden das Vorausgegangene vergisst – oder in „Du fehlst“ und „Night. Sleep. Death. The Stars“, die beide einen familiären Verlust thematisieren. Mit der Figur Hannah knüpft die Autorin allerdings vor allem an ihren 2000 erschienen und 22 Jahre später ebenfalls im Ecco-Verlag übersetzten Bestseller „Blond“ – einer fiktiven Biografie Marilyn Monroes – an. Hier inszenierte sie den schillernden Aufstieg der Schauspielerin als Geschichte eines Mädchens, das Nähe sucht und auf Begehren reduziert wird. Ähnliches klingt auch in den wiederholt eingespielten inneren Monologen Hannahs an:
„Ich bin eine schöne Frau, ich habe ein Recht darauf, geliebt zu werden. Ich bin eine begehrenswerte Frau, ich habe ein Recht darauf zu begehren.“
Der Hunger nach Zuneigung, die Gier nach Vertrautheit: Mit genauem Blick breitet die Autorin auf über 600 Seiten die Unsicherheiten einer Frau aus, für die Liebe und Begehren deckungsgleich sind.

Sehnsucht nach der Berührung des Unbekannten

Doch stellt Oates ihre eigentliche Stärke direkt zu Beginn aus: Die Fähigkeit, komplexe figurenpsychologische Erklärungsmuster zu einem einzigen Moment – dem der Berührung – zu verdichten. „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes“, lautet der wohl meistzitierte Satz Elias Canettis aus seinem Hauptwerk „Masse und Macht“. Hannah wirkt wie Oates literarische Antwort auf diesen Satz. In ihrer Angst vor Ablehnung begehrt sie, was sie am meisten fürchtet: Nähe. Die Berührung durch den Unbekannten wird zum Ersehnten. So sind es die wenigen Sekunden, in denen der Mann, der sich später als Y.K. vorstellen wird, Hannahs Handgelenk im Gedränge einer Wohltätigkeitsveranstaltung umfasst, die Hannah als Initialmoment einer romantischen Liebeswahl deutet:
„Es war bestimmt worden, dass sie ein Liebespaar sein würden. Als sie spürte, wie seine Finger ihr Handgelenk umschlossen, hatte Hannah keine Wahl mehr.“
Im Blick des Lesers ruft bereits diese Szene die Frage nach der Grenze zwischen Berührung und Übergriff auf.

Balanceakt zwischen Liebe und Tyrannei 

Die Begegnung gerät zur Keimzelle eines Gefüges, in dem Liebe und Tyrannei, Intimität und Aggression unerträglich nah zusammenrücken. In ihrem durch die sorgfältig aufgebaute Fassade entstandenen Leidensdruck scheint Hannah die Peinigung in Y.K. geradezu zu suchen.
„Bilde dir nicht ein, dass ich dir schmeichele. All das in deinem Leben, der Schwindel, die Scheinheiligkeit – der Selbstbetrug –, ist nun vorbei. Laut ausgesprochen hat er diese Worte nicht. Und doch hörte sie sie.“
Mit diesem Balancieren auf der fragilen Linie zwischen Zerstörung und Zuneigung schreibt sich die Autorin in einen literarischen Resonanzraum ein, der von Ingeborg Bachmann bis zu Elfriede Jelinek reicht und zuletzt eindrucksvoll von Terézia Mora in ihrem Roman „Muna“ bespielt wurde. Doch bringt Oates diese Konstellation auf ihren wohl grausamsten Nenner: Denn Y.K., der Mann, der Hannah das Gefühl gibt begehrt zu werden, dieser Mann vergewaltigt sie. Wird in klassischen Texten wie Kleists „Marquise von O…“ die eigentliche Gewalttat in der Erzählung ausgespart, so verschreibt sich Oates einer Ästhetik der Drastik: Während der Roman in der Verlagsankündigung eher nach erotischem Abenteuer à la Fifty Shades of Grey klingt, handelt es sich tatsächlich um einen Text, in dem die Autorin die Misshandlung in gnadenloser Detailgenauigkeit seziert. Schon die folgende Szene ist drastisch, wenngleich bei Weitem nicht die drastischste, die Oates präsentiert:
„Sein Gewicht auf ihrem hingestreckten hilflosen Körper wird schwerer, ein schreckliches Gewicht, das sie vernichtet, so blind und teilnahmslos wie die Sonne. Ihre Augen sind offen und starr, blicklos mit einem irren weißen Rand über der Iris. Sie ist verloren, ohne Halt. Hat keine Ahnung, wohin er sie gebracht hat. Schreie entreißen sich ihr wie Schläge. Er drückt ihren Hals nicht, um ihr den Atem zu nehmen, aber das könnte noch kommen, bisher reizt er sie nur.“
In solchen Szenen liefert Oates ihre schutzlose Protagonistin der unerbittlichen Erzählstimme geradezu aus und rückt dabei ihre Leser so nah an die Übergriffe heran, dass es stellenweise schwer erträglich ist. Der lesende Blick selbst verletzt die Intimsphäre.

An der Grenze zum Voyeurismus

Damit begibt sich die Autorin auf eine Gratwanderung, läuft doch dieser – im Jahr 2024 wohl kaum mehr schockierende – Tabubruch Gefahr, in Voyeurismus zu kippen. Es ist der Umstand, dass sich Hannah die wiederholten Vergewaltigungen nicht eingesteht, der Oates vor dieser Gefahr bewahrt. Denn während die Gewalt unzweideutig ist, kontrastiert die Autorin diese mit der Realitätsverweigerung einer Protagonistin, die immer wieder zurückkehrt in das Hotelzimmer, die ihren Vergewaltiger als ihren Geliebten betitelt, sogar eine Zukunft mit diesem Mann möchte.
„Die Szene bis zu Ende zu spielen, das ist entscheidend. Nicht als gedemütigte und misshandelte Frau von Ende dreißig, sondern als naives, atemloses Mädchen, unberührt von Kindesgeburt und der Rohheit grober Hände.“
Diese Durchdringung der Perspektiven, das Nebeneinander von Handlung und Hannahs Gedanken, ist stellenweise kaum aushaltbar. Dabei brilliert Silvia Morawetz mit einer Übersetzung, die die Koexistenz von nüchterner Erzählstimme und Verletztheit der Protagonistin in ihren Feinheiten herausarbeitet. Dass der Roman die Brutalität in solcher Dimension aber gar nicht benötigt hätte, beweisen die stillen Momente nach dem Exzess. Denn auch – und vielleicht gerade – in ihnen schlummert Tyrannei.
„Er lässt sie reden. Ein flatternder Drachen, der sich aufschwingen will und sich in den niedrigsten Ästen verfängt. Fragt leise, wann er sie sehen kann. Sie sagt, sie kann nicht. Nie mehr. Aber wann kann er sie sehen?, fragt er.“
Hannahs Stimme, ihr Nein, es zählt auch hier nicht. Diese mal leise und mal ohrenbetäubende Gewalt verbindet die Geschichte Hannahs auch mit dem zweiten Erzählstrang. In der für Oates typischen Verflechtung von Fiktion und Realität spielt „Babysitter“ Mitte der 1970er-Jahre, als der sogenannte „Oakland County Child Killer“ mindestens vier Kindern ermordete. Oates lässt die Toten selbst das Wort ergreifen:
„Nach Tagen in Gefangenschaft (die kürzeste: drei, die längste: elf) wurden unsere Körper vom Ort der Gefangenschaft neben dem nördlichen See in den Kiefernwäldern in den Oakland County, Michigan, transportiert und dort öffentlich präsentiert. Drei von uns im Schnee. Zwei von uns in der Jahreszeit nach der Schneeschmelze, auf weißen Frotteehandtüchern auf den Boden gelegt.“
Neben diesen – fast mystisch anmutenden – Szenen aus der Perspektive der ermordeten Kinder streut Oates weitere Episoden um den im Roman von der Presse „Babysitter“ getauften Mörder ein. Nie aber gerät er selbst in den Fokus des Erzählens. Stattdessen sind es Menschen in seinem Umfeld, die die Handlung kurz begleitet. Erst spät lässt sich aus den Informationen folgern, welche der am Rande auftauchenden Figuren der Mörder sein muss. In der so angelegten Komposition korrespondieren die öffentlich bekanntgewordenen Bluttaten mit der von Hannah im Privaten erlittenen Gewalt. Dieses Zusammenwirken produziert eine düstere Grundstimmung, immer scheint da etwas Beängstigendes zu lauern.

Möglichkeitsbedingungen der Gewalt

In einem Interview erklärte Oates, für sie gehe es in „Babysitter“ weniger um die Verbrechen selbst als vielmehr um die Frage, wie Menschen im Umfeld einer Gewalttat diese ermöglichen. So überrascht es kaum, dass es genau die Momente sind, in denen sich die über weite Teile des Buchs parallel laufenden Erzählstränge berühren, an denen deutlich wird, was hier der Gewalt den Weg ebnet. Denn schnell wird klar, dass der Mörder keinesfalls so weit weg von der Hannah umgebenden schillernden Elite Detroits ist, wie diese glauben möchte. Bezeichnenderweise ist es ihre ständig präsente, doch kaum beachtete Haushälterin Ismelda, die im Rahmen einer in der gesamten Gegend durchgeführten Befragung feststellt:
„Es muss ein ‚Weißer‘ sein, damit er überallhin gehen kann, wo er will und nicht auffällt und niemand Fragen stellt.“
Doch niemand will sie hören. Was nicht zur glänzenden Fassade des Vorstadtlebens passt, wird im Unwillen, die im eigenen Milieu beheimatete Gewalt zu sehen, ignoriert. Damit stellt Oates die Frage, ob verhinderbar wäre, was passiert. Dieses Interesse für die Scheidewege eines Geschehens spielte schon in ihrem Erzählband „Das Unerwartete“ eine Rolle. Hier waren es die kurzen Momente, in denen ein anders verlaufendes Leben greifbar wird, auf die Oates fokussierte. Über „Babysitter“ äußerte die Autorin wiederum, sie erzähle den Roman im Präsens, um zu verdeutlichen, dass das hier Erzählte nicht abgeschlossen sei, dass jede Entscheidung die Geschichte neu wende.

Die Wiederkehr des Traumas

Die erzählerische Kraft gewinnt „Babysitter“ allerdings aus der Kombination dieser ständigen Gegenwart mit einem zirkulären Erzählen. Immer wieder überlagert sich das unmittelbare Geschehen mit schon vergangenem. Diese Ununterscheidbarkeit von singulären und sich wiederholenden Ereignissen ist als Erzähltechnik nicht neu, findet sich meisterhaft bei einem großen literarischen Vorbild wie Marcel Proust. Doch nutzt Oates das zirkuläre Erzählen, um traumatische Strukturen sichtbar zu machen. Denn überblendet werden nicht nur die mehrmaligen Besuche in dem Hotelzimmer, sondern auch Episoden aus Hannahs ebenfalls von Gewalt geprägter Kindheit. Gegenwart und Vergangenheit des Traumas verschmelzen in der Wahrnehmung der Protagonistin:
„Du hast das schon einmal durchgestanden. All das, was vor dir liegt, du kannst es nicht verhindern. Noch viele Male. Zum ersten Mal.“
Eine solche Erzählweise hat etwas Zermürbendes. In seinen ständigen Wiederholungen lädt der Roman geradezu dazu ein, über seine Protagonistin zu richten: Über weite Strecken scheint die Erzählstimme deckungsgleich mit der der Protagonistin zu sein, nur um deren Handeln dann doch aus höherer Warte subtil zu hinterfragen. Mit dieser Überkreuzung der Erzählperspektiven zwingt Oates auch ihre Leser in die Selbstreflexion, erweist es sich – selbst im Wissen um die Mechanismen des „victim blaming“ – doch immer wieder als verführerisch, den Verurteilungsangeboten zu folgen.

Mechanismen der Schuld

Diese Konstellation spitzt die Autorin weiter zu, indem Hannah im Verlauf des Romans Schlafmittel nimmt, sich hemmungslos betrinkt und schließlich immer häufiger Erinnerungslücken aufweist – und sich damit schließlich selbst schuldig macht, als ein anderer der Vergewaltigung an ihr beschuldigt wird. Denn dort, wo Hannahs Erinnerung versagt, gewinnen Gerüchte an Eigendynamik. Es ist ihr Mann Wes, der schließlich die Misshandlungen an Hannahs Körper bemerkt, der seine Frau im Moment größter Vulnerabilität verrät.
„Die Beamten verstehen. Männer verstehen. Wenn ein verheirateter Mann zugibt, dass seine Frau vergewaltigt worden ist, gibt er zu: Ich bin vergewaltigt worden.“
Hannahs Ehemann, der Mann, der sie schützen müsste, entreißt ihr stattdessen ihre Erfahrung, macht sie zu seinem Besitz.
„Jedes Mal, wenn er den Hergang schildern soll, wird Wes hitziger und sicherer. Die Aufmerksamkeit der (weißen) Polizisten, ihr Mitgefühl und ihr Respekt für ihn, den (weißen) Ehemann des Vergewaltigungsopfers, spornen Wes zur Emphase an, zur Entschiedenheit, als hätte er persönlich gesehen, wie die Tür zum Treppenhaus kräftig aufgestoßen wurde, hätte einen flüchtigen Blick auf die Gestalt in der Tür geworfen, wäre dort gewesen und hätte das brutale Gesicht gesehen: ein Schwarzer.“

Hannah wird diesen Äußerungen nicht widersprechen. Natürlich weiß sie, dass ihr Vergewaltiger keinesfalls der schwarze Parkwächter war, dass es Y.K. war, der sie misshandelt, gedemütigt hat. Rückte Oates in ihrem mit dem National Book Award gekürten Roman „them“ noch die Detroiter Rassenunruhen von 1967 in den Fokus, führt „Babysitter“ zurück an diesen Schauplatz. Gezeigt wird, wie auch Jahre später der Rassismus der weißen Oberschicht allgegenwärtig ist.
Der Rassismus unter der Oberfläche der Detroiter Eliten 
Diesen strukturellen Rassismus baut Oates erzählerisch nach: Zunächst sind es nur die kleinen Bemerkungen von Wes, die ihn bezeugen – fast könnten sie dem Leser entgehen. Dann ist da der Umstand, dass alle Hauptcharaktere in Oates Roman Weiße sind, People of Colour tauchen hingegen nur als Personal auf.
„Angestellte in Uniform sind eine Annehmlichkeit. Denn was sie in der bewachten Stadt bieten, ist Sicherheit: Schutz. Parkwächter, Portiers, Hotelpagen: ein Kehrreim herzlicher Begrüßungen, der Hannah in ihrem glänzenden weißen Buick empfängt: Willkommen im Renaissance Grand, Ma’am!“
Parkwächter, Portiers, Hotelpagen: Diese Menschen haben keine Relevanz für Hannah, haben keine Stimme in der Erzählung. Erst als er der Vergewaltigung einer Frau beschuldigt wird, gerät einer von ihnen in den Fokus, avanciert von einer unscharf gezeichneten Randfigur für kurze Zeit zum Hauptakteur. Zekiel Jones heißt der Mann, dessen Namen die Leser nur erfahren, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war, weil Hannah ihn ausliefert, indem sie der Geschichte ihres Mannes nichts entgegensetzt.
„Mein größtes Mitgefühl gilt den Menschen, die von der Geschichte wie von der Wirtschaft zurückgelassen wurden; sie sind überall um uns herum, werden aber erst sichtbar, wenn etwas entsetzlich schiefläuft“, schreibt Oates in ihrem Essayband „Soul at the White Heat“. Zekiel Jones ist einer dieser Menschen, wird erst sichtbar als Opfer des Rassismus.
Die Spiegelung sozialpolitischer Probleme in fiktiven Lebensgeschichten stellt eine der sich durch Oates’ Œuvre ziehenden Konstanten dar. In „Babysitter“die Autorin erneut gekonnt private und öffentliche Geschichtsschreibung. Klar ist: Viele der dabei verarbeiteten Problemkonstellationen sind nicht neu. Oates’ Stärke besteht demgegenüber darin, jeder der erzählten Perspektiven ihren ganz eigenen Sound zu verleihen. Damit erweist sich „Babysitter“ als Gegenteil einer harmonischen Gesamtkomposition. Es ist vielmehr die Kollision der verschiedenen Stimmen, aus der sich ein übergreifendes Panorama zusammensetzt. Damit betreibt die Autorin eine Art von Gesellschaftskritik, die ohne manifeste Thesen auskommt. Denn während die im Roman scheinbar angebotenen Erklärungsmuster so einfach sind, wird an keiner Stelle eine tatsächliche Lösung etabliert: Bis zum Ende bleibt die Gewalt die bestimmende Größe; ihren Mechanismen ist kaum zu entkommen. Mit „Babysitter“ präsentiert Oates einen Text, der unangenehm sein will. Ein beklemmender Roman, dessen präziser Blick den Leser vereinnahmt – und verloren zurücklässt.
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