Joshua Cohen: „Die Netanjahus“

Aberwitzige Heimsuchung

05:49 Minuten
Joshua Cohen: „Die Netanjahus“
© Schöffling

Joshua Cohen

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Die NetanjahusSchöffling, Frankfurt am Main 2023

287 Seiten

25,00 Euro

Von Carsten Hueck · 26.01.2023
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Als der jüdische Historiker Ruben Blum einen Kollegen beherbergen muss, wird sein Haus auf den Kopf und seine Identität infrage gestellt. Pulitzer-Preisträger Joshua Cohen macht daraus in „Die Netanjahus“ eine tolle Farce mit ernstem Hintergrund.
Wer denkt bei diesem Romantitel nicht gleich an den umstrittenen israelischen Ministerpräsidenten, der derzeit das politische System seines Heimatlandes nachhaltig verändern will? Aber Joshua Cohen, 1980 in den USA geboren, hat mit „Die Netanjahus“ keinen politischen Schlüsselroman geschrieben, sondern eine ausgefeilte, kluge und bestechend witzige Komödie. Benjamin Netanjahu kommt tatsächlich darin vor, allerdings nur als wenig rühmlicher Nebendarsteller in einer fulminanten Slapstick-Szene.

Das Leben in der Provinz

Schauplatz der Handlung ist Corbindale, eine kleine, fiktive Universitätsstadt im Staat New York, „unweit des Ufers des Eriesees zwischen Apfelplantagen und Bienenstöcken und Molkereien“. Der emeritierte Historiker Ruben Blum resümiert seinen beruflichen Werdegang und was es bedeutet, Jude in den USA zu sein. Er kommt dabei auf einen Vorfall im Jahr 1960 zu sprechen. Ruben war der einzige Jude seiner Fakultät, „dazu erzogen, auf Provokationen im Stile Jesu Christi zu reagieren, auch wenn man mir regelmäßig vorwarf, ihn gekreuzigt zu haben“.
1960, im vor-woken Zeitalter, waren Blum, seine Ehefrau und Tochter, trotz respektabler beruflicher Position und heißem Bemühen, unauffällig und gute Amerikaner zu sein, ständigen Kränkungen ausgesetzt. Der Automechaniker macht fiese Bemerkungen, der Dekan bittet ihn, den Weihnachtsmann zu spielen, „denn Sie haben einen richtigen Vollbart, wie ihr Vater einen hatte“. Ruben, eingedenk jüdischer Geschichte und der gewalttätigen Auswüchse des Antisemitismus, nimmt all das als vergleichsweise harmlos hin.

Konfrontation mit dem radikalen Zionismus

Nun aber stellt sich ein weiterer Jude an der Universität vor, ebenfalls Historiker, ein gewisser Ben Zion Netanjahu. Joshua Cohen lässt damit zwei ganz unterschiedliche jüdische Charaktere aufeinandertreffen, das Fiasko ist vorprogrammiert. Netanjahu ist dem realen Vater Benjamin Netanjahus nachgezeichnet, einem radikalen Zionisten, der zwar das Diaspora-Dasein ablehnt, wegen seiner revisionistischen Positionen aber selbst in Israel keinen Job bekommt - und nun an der Provinzuni vorsprechen muss.
Entgegen der akademischen Gepflogenheiten bringt er im schrottreifen Leihwagen gleich Ehefrau und drei Söhne mit. Und Ruben muss die ganze Familie beherbergen. Erst hält die bürgerlich-freundliche Fassade, dann bricht das Chaos los.

Slapstick und feinste Erzählkunst

Am Ende wälzt sich der jüngste Netanjahu, ein siebenjähriger Windelträger, in den Scherben von Blums neuem Farbfernseher, während Joni, der älteste, Blums Tochter verführt und dann splitterfasernackt mit seinem voyeuristischen Bruder Bibi in die verschneite Nacht flieht. Netanjahus Ehefrau bezichtigt Blums Ehefrau des Puritanismus, Blum selbst sieht die Netanjahus als „Haufen verrückter Türken“.
Das Buch, für das Cohen im vergangenen Jahr den Pulitzer-Preis erhielt, ist im Kern ein Campusroman. Aber auch eine jüdische Familiengeschichte und ein Roman in der Tradition der großen jüdisch-amerikanischen Schriftsteller Bellow, Malamud und Roth.
Es geht um jüdisches Leben in den USA, um Assimilation und Erniedrigungen, um Identität und Geschichtsschreibung. Solch ernste und existenzielle Themen gestaltet Cohen großartig mit feinem Humor, mit deftigen Comedy-Elementen, viel Ironie und Spaß am Überführen von Alltagsszenen ins Groteske. Alle kriegen ihr Fett ab. Ich-Erzähler Ruben ist absolut humorfrei – das macht seine Schilderungen umso komischer.
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