Jochen Hörisch: "Hände. Eine Kulturgeschichte"

Alles in Goethes Hand

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Buchcover: Jochen Hörisch "Hände. Eine Kulturgeschichte"
Ja, die Hand ist uns noch immer wichtig, doch früher war sie uns wichtiger, sagt Jochen Hörisch. © Hanser /Deutschlandfunk Kultur
Von Michael Opitz · 11.02.2021
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Mehr als irgendein anderes Körperteil machen die Hände den Menschen zum Menschen. Der Germanist Jochen Hörisch widmet ihnen eine ziemlich literaturlastige Kulturgeschichte.
Als "Geniestreich der Evolution" wird die Hand bezeichnet, von der Aristoteles sagte, sie sei das "Werkzeug der Werkzeuge". Das ist kein Widerspruch zu Jochen Hörichs These, dass für die Epoche des 21. Jahrhunderts die "Handvergessenheit" kennzeichnend sei, denn am Markt sind jene Firmen am höchsten dotiert, die nichts "Handgreifliches" produzieren. Auch geben wir uns in Corona-Zeiten zur Begrüßung nicht mehr die Hände. Einst signalisierte der Handschlag, dass man in friedlicher Absicht – nämlich ohne Waffen – gekommen ist. Gegenwärtig sind wir dabei, uns von diesem Ritual zu verabschieden.

Das Leben geben und nehmen

Thematisch gerahmt wird Hörichs Kulturgeschichte der Hände von den zwei Motiven "Das Leben geben" und "Das Leben nehmen". Das gegebene Leben bedarf der helfenden, der schützenden Hand. Im Laufe seines Lebens kann der Mensch in Situationen kommen, in denen er keinen anderen Ausweg sieht, als Hand an sich zu legen.
In Anlehnung an die Philosophie Kants, der die Geburt als eine Gewalttat definiert – das gegebene Leben liegt nicht in der Hand desjenigen, der es empfangen hat – und im Verweis auf Goethe, der im "Werther"-Roman das Hand an sich legen thematisiert, spannt Hörisch zwischen Werden und Vergehen einen weiten Bogen. Platz finden darunter auch die "Großmetaphern" die "Hand Gottes" und die "unsichtbare Hand des Marktes".
Hörisch hinterfragt in diesem Zusammenhang, inwiefern es Gottes Hand ist, die das Leben des Einzelnen lenkt und leitet, welche emanzipatorischen (von lat. manus, Hand) Kräfte aufgebracht werden müssen, um sich aus einer "lebensgestaltenden" Hand zu befreien, wie die Hand des Schicksals waltet und welche das Leben beeinflussende Macht die unsichtbare Hand des Marktes, also die Ökonomie, auf das Leben hat.

Goethes Hände

Seine zentrale Berufungsinstanz dabei ist Johann Wolfgang Goethe, in dessen Werk die Hand das entscheidende Leitmotiv darstellt. Sehr belesen präsentiert Hörisch sein umfangreiches Goethe-Wissen, wenn er etwa Prometheus erwähnt, der in Goethes gleichnamigen Gedicht als Referenzperson von einem lyrischen Ich angerufen wird, das keinem Gott danken will, weil es doch alles, was sein Selbst ausmacht, aus sich selbst heraus geschaffen hat.
Oder wenn er auf Werther verweist, der mit den Pistolen, die er aus Lottes Hand empfangen hat, Hand an sich legt. Erweitert wird das von Goethe dominierte Hand-Feld durch kluge Exkurse u.a. zu Johann Gottfried Herder, Franz Kafka und Thomas Manns "Buddenbrooks".
Doch der "Kultur"-Begriff umfasst mehr als die Literatur, was Hörisch natürlich weiß. Seine Kulturgeschichte der "Hände" aber hat eine auffällige germanistische Schieflage. Zu viel Goethe! Während Kant, Hegel, Heidegger, Nietzsche im Hinblick auf die Hand-Metaphorik noch angemessen vertreten sind, kommt die bildende Kunst deutlich zu kurz und die Musik – abgesehen von einem Verweis auf den Pianisten Paul Wittgenstein – bleibt eine beklagenswerte Leerstelle.
Hörisch ist ein guter Erzähler und ein erfahrener Buchautor. "Hände" ist eine gediegene, an der Handmotivik entwickelte Goethe-Abhandlung, in der häufig nur als Rüsche auftaucht, was in einem kulturwissenschaftlichen Hand-Diskurs tiefer hätte ausgelotet werden müssen.

Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte
Hanser Verlag, München 2021
304 Seiten, 28 Euro

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