Plötzlich brannte der Weihnachtsbaum,
Plötzlich brannte das Sofa und die Tapete,
Kam eine Marmorplatte geschwirrt,
Rannte der große Spiegel gegen den kleinen Wirt.
Joachim Ringelnatz: "Am Weihnachtsabend"
© Insel-Bücherei
Nicht ohne meinen Karpfen
06:23 Minuten

Joachim Ringelnatz
Am WeihnachtsabendInsel-Bücherei, Berlin 202580 Seiten
12,00 Euro
Die Weihnachtsgedichte von Joachim Ringelnatz sind alles andere als besinnlich. Mit jeder Menge Humor und schweren Themen unterläuft der Dichter gekonnt alle kitschigen Erwartungen an das Weihnachtsfest.
An Weihnachtsbüchern herrscht wahrlich kein Mangel. Geht man zum Beispiel in ein großes Berliner Kulturkaufhaus, findet man nicht nur einen, sondern gleich drei Tische mit Weihnachtsbüchern, Anthologien voller Gedichte, Erzählungen, Märchen, und alle heißen sie „Am Weihnachtsabend“ oder „Unterm Weihnachtsbaum“ oder so ähnlich. Und die meisten Cover sind so gestaltet, dass man gar kein Geschenkpapier mehr braucht.
Daneben gibt es den Tisch speziell mit Weihnachtsbüchern für Kinder, von Astrid Lindgren bis Cornelia Funke, von Walter Moers bis „Pettersson und Findus“. Und dann gibt es noch den vielleicht am reichhaltigsten gedeckten Tisch, jenen mit Weihnachtskochbüchern.
Alkoholexzesse am Heiligen Abend
Das Essen ist an den Feiertagen ja ein großes Thema, so auch in den Weihnachtsgedichten von Joachim Ringelnatz. Vor allem der „Karpfen blau“ schwimmt immer wieder durch die Verse des 1883 in Wurzen in der Nähe von Leipzig geborenen Dichters.
Bekannt geworden ist er durch sein Alter Ego, den Seemann Kuttel Daddeldu, und der treibt auch in „Am Weihnachtsabend“ sein Unwesen. Wie es sich für einen Seemann auf Landgang gehört, betrinkt er sich selbst am Heiligen Abend und feiert so heftig, dass der Weihnachtsbaum in Flammen aufgeht:
Wer sich Besinnliches von Ringelnatz’ Weihnachtsgedichten verspricht, der wird bei der Lektüre eine kleine Weihnachtsüberraschung erleben. Da fliegt nicht nur ein Kolibri um die Tanne, da sitzt auch schon mal ein Zuhälter unterm Weihnachtsbaum, und das Kind wünscht sich, der liebe Gott möge seine Eltern, auch wenn sie Säufer sind, noch nicht zu sich holen.
Die Weihnachtszeit ist ja für viele auch eine schwierige Zeit: Ringelnatz thematisiert Einsamkeit, Armut und sogar psychische Zusammenbrüche.
„Und das darfst Du bekennen
Du bist voll Angst vor dem großen Schatten geflohn,
den wir Wahnsinn nennen.“
Du bist voll Angst vor dem großen Schatten geflohn,
den wir Wahnsinn nennen.“
Mit Sprachwitz und heiterer Melancholie
Weihnachten heißt ja, zumindest in unseren Breiten: Es ist kalt und dunkel, und gerade in den 1920er-Jahren, in denen Ringelnatz sehr produktiv war, was die Produktion von Weihnachts-, Winter- und Neujahrsgedichten angeht, konnte sich längst nicht jeder einen Weihnachtsbaum, viele nicht einmal wärmende Kohlen oder eine andachtsvolle Kerze leisten.
Und trotzdem ist „Am Weihnachtsabend“ zuallererst ein sehr lustiges Büchlein. Ringelnatz war ein großer Humorist, seine Gedichte sind voller Sprachwitz, und die heitere Melancholie, die seine Verse durchzieht, versetzt einen durchaus in besinnliche Stimmung. Dazu tragen nicht zuletzt die putzigen Illustrationen von Paula Schmid bei, die ebenso vor hundert Jahren hätten gezeichnet sein können.
Weihnachten ist ein sehr konservatives Fest, deshalb gibt es auch immer wieder neue Ausgaben alter Gedichte. Aber gerade jene von Ringelnatz sind aller Ehren wert, weil sie die Erwartungen an jene heile Welt, die sonst in Weihnachtsgedichten beschworen wird, gekonnt unterlaufen.








