Jüdische Ukraine-Hilfe

Die Pflicht zur guten Tat

08:44 Minuten
Geflüchtete Kinder aus Odessa stehen nach ihrer Ankunft in einem Flur in einem Hotel. Zwei Busse mit Kindern aus einem Waisenhaus in Odessa sind in Berlin angekommen.
Anfang März erreichte ein Transport mit jüdischen Kindern aus Odessa Berlin. Anfangs kamen sie in einem Hotel unter. © picture alliance / dpa / Christophe Gateau
Von Rebecca Hillauer · 30.12.2022
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Die Bereitschaft, ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu helfen, ist in den jüdischen Gemeinschaften in den USA besonders groß. Ein Besuch bei der Organisation “Jews for Justice” in Phoenix, Arizona.
Im Büro der Organisation “Jews for Justice” in Phoenix, Arizona. In der Stadt Phoenix gibt es die fünftgrößte jüdische Gemeinde in den USA. Die „Juden für Gerechtigkeit“ sind ein gemeinnütziger Verein, der Flüchtlingen und Migranten hilft. Gerade packen Julia Sirota und Eddie Chavez-Calderon die neueste Ladung Spendenpakete aus, die Gemeindemitglieder für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine geschickt haben.
Eddie Chavez-Calderon: "Das sind Sport-BHs. Und dann Unterwäsche. Brandneu natürlich."
Julia Sirota: "Wir haben einen Aufruf mit einer Liste der am dringendsten benötigten Artikel veröffentlicht. Wie etwa Gürtel."
Eddie Chavez-Calderon: "Und Schnürsenkel. Denn wenn man bei der Einwanderung festgenommen wird, nehmen sie einem den Gürtel und die Schnürsenkel weg, damit man sich nicht umbringen kann."

Komplizierte Einreise in die USA

Nicht alle ukrainischen Kriegsflüchtlinge kommen auf dem offiziellen Weg direkt aus der Ukraine oder aus Europa in die USA, viele suchten in ihrer Verzweiflung auch illegale Wege, erläutert Eddie Chavez-Calderon.
"Von anderen Hilfsorganisationen wissen wir, dass sich an der mexikanisch-amerikanischen Grenze in Arizona ukrainische Flüchtlinge aufhalten, die aufgrund des sogenannten Titels 42 nicht in die USA einreisen dürfen. Titel 42 verbietet im Wesentlichen die Einreise wegen der Corona- Pandemie. Die Menschen dürfen also auch kein Asyl beantragen. Denn um in den Vereinigten Staaten Asyl beantragen zu können, muss man zumindest einen Fuß auf den Boden der USA setzen."
Die Vereinigten Staaten unterscheiden zwischen anerkannten Flüchtlingen und Asylsuchenden. Als Flüchtlinge gelten Menschen, die noch in ihrem Heimatland bei der jeweiligen amerikanischen Behörde erfolgreich einen Asylantrag gestellt haben. Asylsuchende sind dagegen diejenigen, die ohne gültige Einreisepapiere die amerikanische Grenze überschreiten und dann erst um Asyl bitten. Sie müssen ein oft mehrere Jahre dauerndes Prozedere durchlaufen, bis sie wissen, ob sie ein Bleiberecht erhalten oder nicht.

Unterstützung für ein Waisenhaus

Eddie Chavez-Calderon: "Ukrainer würden technisch gesehen den Flüchtlingsstatus erhalten und keine Asylbewerber sein. Aber viele Ukrainer sind verzweifelt, also reisen sie ohne Papiere ein, so wie andere Flüchtlinge auch. Statt zu versuchen, nach Europa zu gelangen, und dann in Europa zu warten, ist es für sie billiger, von Europa nach Mexiko zu fliegen. Dann sehen sie eine Chance, an der amerikanischen Grenze ihren Fall direkt vorzutragen."
Ebenfalls aus Arizona stammt der Anwalt Richard Rosen, dem die Situation der ukrainischen Menschen ans Herz geht. Der Philanthrop unterstützt seit Langem das Mishpacha Waisenhaus in Odessa, auch wegen familiärer Bindungen.
"Ich habe das Waisenhaus gesehen, ich finde, es ist eine wunderbare Sache. In Odessa gibt es koschere Restaurants und mehrere Synagogen. Und weil mein Freund Igor einer orthodoxen jüdischen Gemeinde angehört, sind wir in die orthodoxe Synagoge gegangen. Ich bin nicht mit der gesamten Politik der Ukraine vertraut. Aber mein Großvater väterlicherseits stammte aus Odessa."

In Deutschland gab es schnelle HIlfe

Mishpacha, der Name des Waisenhauses, heißt auf Hebräisch Familie. Die jüdisch-orthodoxe Chabad-Gemeinde betreibt die Einrichtung und musste sich für die Evakuierung jetzt im Krieg etwas einfallen lassen. Die Lösung hieß schließlich: Deutschland. Genauer gesagt Berlin. Warum die Kinder nach Berlin und nicht nach Israel gebracht worden sind?
Igor Shatkhin, der das Waisenhaus leitet, sendet die Erklärung aus Odessa mittels eines Messenger-Dienstes:
"Man braucht Reisepässe, man braucht Papiere. Deutschland war das einzige Land, bei dem unser Kontakt mit Behörden zu einer Lösung geführt hat. Mit Hilfe des Rabbiners der Chabad-Gemeinde in Berlin konnten wir die Kinder schließlich nach Berlin schicken. In Israel stellten sie zu viele Fragen, und wir hatten nicht die Zeit, das Geforderte schnell zu erledigen."

Auch ein Baby ist dabei

Rabbi Yehuda Teichtal, der Leiter der Chabad-Gemeinde in Berlin, hat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Nur drei Tage, nachdem er per Telefon den Hilferuf aus Odessa erhalten hatte, konnten die ersten zwei Busse mit Kindern starten – einer für Mädchen, der andere für Jungen.
120 Kinder und Jugendliche konnten so Berlin vor dem Krieg fliehen, das jüngste, ein Baby, sei gerade mal einen Monat alt, berichtet Waisenhaus-Leiter Igor Shatkhin in seiner Messenger-Nachricht.
"Die Mutter hat ihn zwei Wochen vor dem Krieg zu uns ins Haus gebracht. Das Alter der Kinder liegt also zwischen einem Monat und 18 Jahren. Viele Kinder stammen aus anderen Teilen der Ukraine, aus Weißrussland und Kasachstan, auch aus Odessa. Sie sind eigentlich keine Waisenkinder. Sie haben Eltern, aber ihre Mütter und Väter sind drogensüchtig oder Alkoholiker."

Eine gute Tat

Richard Rosen, der Philanthrop in Arizona, gehört zwar nicht dem orthodoxen Judentum an, sondern ist säkular, sein Engagement für das Waisenhaus begründet er jedoch mit der jüdischen Tradition. "Es ist einfach ein lohnenswertes humanistisches Projekt. Auf hebräisch: eine Mitzwa. Eine gute Tat. Zum Wohle der Menschheit, zum Wohle des jüdischen Volkes."
Auch für die Helferinnen und Helfer des Vereins „Juden für Gerechtigkeit“ in Phoenix ist die gleiche Motivation ausschlaggebend. Ob die Hilfsbedürftigen jüdischen Glaubens sind, ist für sie nicht die Frage, so Julia Sirota, die ein Semester lang in Freiburg Deutsch studiert hat.
"Die Religion ist nicht wichtig für uns. Wir helfen allen Leuten. Es ist nur wichtig, dass sie Leute sind, die Hilfe brauchen. Weil wir Juden sind ist es unsere Pflicht, Ausländern zu helfen. Weil wir einmal in unserer Geschichte Ausländer waren. Und die Ausländer heute sind, wie wir einmal waren. In der Tora und dem Talmud steht, dass wir anderen Menschen helfen sollen, die leiden. Es ist unsere Pflicht!"

Die Kinder vergessen den Krieg

Gerade bringt der Paketbote neue Kartons mit Spendengaben. Eddie Chavez-Calderon, der zweite Mitarbeiter, fügt noch hinzu, dass er selbst als fünfjähriger Junge mit seiner Mutter illegal von Mexiko in die USA gekommen sei. Er könne deshalb gut nachempfinden, wie sich die 120 Kinder aus dem Waisenhaus in Odessa nun in der sicheren Zuflucht in Berlin fühlen.
Igor Shatkhin, der die Kinder auf der Fahrt begleitet hat: "Die Kinder fühlen sich dort sehr wohl, alles ist in Ordnung. Sie haben Unterricht und Unterhaltung. Ich glaube, sie haben die Sirenen und den Krieg schon fast vergessen. Ihnen geht es jetzt gut."
Der Waisenhausleiter ist 29 Jahre alt. Normalerweise dürfte er jetzt während des Krieges nicht nach Deutschland fahren, weil allen Männern ab 18, im wehrfähigen Alter, die Ausreise aus der Ukraine verboten worden ist. Wegen der Kinder habe er aber eine Ausnahmegenehmigung erhalten, sagt Igor Shatkhin. Ein älterer Rabbiner sei bei den Geflüchteten in Berlin geblieben.
Er selbst ist nach Odessa zurückgekehrt – in eine ungewisse Zukunft. Ungewiss ist auch, wie es mit den Geflüchteten in Arizona weitergeht. Journalisten ist es behördlich untersagt, mit ihnen zu sprechen. Die „Juden für Gerechtigkeit“ werden die Spenden an die Menschen weitergeben und dann mehr erfahren.
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