"Jetzt kommt es zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte"

Bozena Choluj im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Nachdem der verunglückte polnische Präsident Lech Kaczynski mit der Gedenkfeier in Katyn eine Veränderung in den polnisch-russischen Beziehungen angestoßen hat, erhofft sich die Warschauer Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Bozena Choluj, dass "alles, was diese zwei Länder verwoben hat in der Geschichte, jetzt aufkommt" und gemeinsam "angegangen" wird.
Stephan Karkowsky: Der frühere polnische Staatspräsident Lech Walesa zog als Erster die Parallele zwischen dem Massaker von Katyn im Zweiten Weltkrieg und dem Flugzeugabsturz von Smolensk. Zweimal starb nahezu am selben Ort Polens geistige Elite.

Wie die polnische Gesellschaft dieses Ereignis verkraftet, das soll uns Frau Professor Bozena Cholui erklären. Die prominente Warschauer Kulturwissenschaftlerin und Germanistin lehrt deutsch-polnische Kultur- und Literaturbeziehungen und Genderstudies an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Guten Morgen!

Bozena Choluj: Guten Morgen!

Karkowsky: Man kann es nun einen schrecklichen Zufall nennen oder den Fluch von Katyn, dass ausgerechnet dieser Ort zum zweiten Mal für den Verlust der polnischen Elite steht. Was glauben Sie welche Meinung in Polen überwiegt?

Choluj: Ja, eigentlich nach dem Geschehen ist Polen irgendwie erstarrt. Niemand konnte das richtig glauben und kurz darauf kam die Parallele sofort in die Köpfe der Bürger und Bürgerinnen, unabhängig von der politischen Option. Das sollte wirklich die erste Gedenkfeier sein, wo viele Familienangehörigen von den Umgekommenen, Ermordeten in Katyn stattfinden sollte, wo die Leute zum ersten Mal hinfahren konnten. Und das war fast wie ein Erfolg der Politik von Lech Kaczynski, dass diese Feier zustande kommt in so einem Ausmaß. Deswegen ist es nicht möglich gewesen, diese Parallele nicht zu ziehen.

Karkowsky: Wir haben Menschen in Polen nach ihrer Haltung befragt.

O-Töne Polen und Polin: "Das ist eine Zeit, in der man nicht allein bleiben möchte. Das ist ein tragischer Moment. Ich werde später meinen Kindern berichten von dieser Ironie der Geschichte.
Mir ist nicht bekannt, dass jemals zuvor auf dieser Welt auf einen Schlag so viele gesellschaftliche Führungspersönlichkeiten ums Leben gekommen wären. Das waren nicht nur Politiker, sondern auch Geistliche und Spitzen des Militärs. Das ist ein Krisenereignis und wir müssen damit irgendwie umgehen. Ich hoffe, dass der polnische Staat und die polnische Gesellschaft eine gute Lösung dafür finden. Wir müssen jetzt die Ruhe bewahren und zusammenhalten".
"Das ist ein riesiger Verlust und eine Tragödie für ganz Polen. Das waren Menschen von sehr hoher Moral. In unseren Herzen ist eine große Leere, die man mit Worten gar nicht beschreiben kann".
"Heute, angesichts des nationalen Dramas, stehen wir vereint Seite an Seite. Heute gibt es keine Trennung zwischen Linken und Rechten. Lassen Sie uns zusammenstehen in diesen so schwierigen Tagen für unsere Heimat!"

Karkowsky: Frau Choluj, da hören wir sehr viel Trauer, aber auch, dass Linke und Rechte gemeinsam beten. Haben Sie den Eindruck, dass nun eine Schicksalsgemeinschaft entstanden ist, die die polnische Nation auch stärken könnte?

Choluj: Auf der einen Seite, ja. Auf der anderen Seite gibt es schon Zweifel, wie lange es anhalten wird, denn es gab eine große Polarisierung zwischen den Linken und zwischen den Rechten, aber auch zwischen dem jetzigen Ministerpräsident, Premier, und dem verstorbenen Präsidenten und dieser Unterschied wird wahrscheinlich hochkommen nach einer gewissen Zeit.

Zunächst mal gibt es tatsächlich eine Gemeinschaft, unerhofft große Zeugnisse dessen: Viele Menschen sind auf die Straße gegangen vor den Palast des Präsidenten. Sie haben Kerzen und Blumen hinterlegt. Es gab so eine Stimmung – und diese Stimmung gibt es noch bis heute –, wo man den Eindruck hat, das war der beliebteste Präsident Polens. Auf der einen Seite muss man wohl sagen, was so hochkommt. Die Überzeugung, dass die Mission von Kaczynski vollzogen ist, das heißt die Mission, dass Katyn endlich, das, was dort passiert ist, in der ganzen Welt bekannt wird. Und das ist passiert durch diese Ironie der Geschichte, wie es in jedem Material heißt.

Aber es gibt ja auch so ein Paradox: Er war der radikalste Kritiker der undemokratischen Tendenzen in Russland. Und vor diesem Kritiker knien sowohl Tusk als auch Putin zusammen und das ist so eine symbolische Kraft dessen, was jetzt vielleicht in russisch-polnischen Beziehungen stattfindet, dass man das immer noch nicht so richtig fassen kann.

Karkowsky: Ja. Sie hören im "Radiofeuilleton" Bozena Chobuj, Professorin für deutsch-polnische Kultur an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt. Frau Cholui, das russische Trauma – der verstorbene Staatspräsident, Sie haben es gesagt, hat die Polen immer zur Wachsamkeit aufgerufen gegenüber Russland. In welche Richtung verändert denn die Katastrophe jetzt das polnisch-russische Verhältnis?

Choluj: Wahrscheinlich wird es wichtig sein, dass Katyn endlich nicht mehr versteckt, verdeckt wird, dass das zur gemeinsamen Erinnerung auch nicht nur der Polen, sondern auch der Russen sein wird gestern.

Karkowsky: Also eher ein besseres Verhältnis?

Choluj: Ein besseres Verhältnis, denn zumal der Film von Wajda, "Katyn", ausgestrahlt worden ist im vorigen Jahr. Vor zwei Jahren gab es eine Vereinbarung, dass dieser Film dort gezeigt wird, und er wurde nur an ausgewählten Stellen gezeigt. Diesmal ist das in dem öffentlichen, staatlichen Sender ausgestrahlt worden. Also jetzt kommt es zu einer Auseinandersetzung auch mit der eigenen Geschichte in Russland, von den Russen, und das ist auch die Erwartung der Polen, dass diese Gemeinsamkeit negativ und positiv, alles, was diese zwei Länder verwoben hat in der Geschichte, jetzt aufkommt und tatsächlich angegangen wird gemeinsam. Und ich glaube, dafür gibt es Zeichen auch von der Seite Putins und Medwedjew mit allen Entscheidungen, die getroffen worden sind mit dem Nationaltrauertag heute in Russland.

Karkowsky: Viele der Getöteten standen nicht nur einfach an der Spitze von Institutionen, sie waren auch als Persönlichkeiten Garanten für eine ganz bestimmte Politik. Nehmen wir als Beispiel den Präsidenten des Institutes der nationalen Erinnerung: Kann dieses Institut seine Arbeit ohne ihren Direktor fortführen?

Choluj: Das ist eine große Frage, eine sehr offene Frage, zumal Änderungen der Vorschriften im Zusammenhang mit diesem Institut vorbereitet worden sind, und es soll ein neuer Beschluss unterschrieben werden durch den Präsidenten Kaczynski. Dieser Beschluss müsste oder würde die Kraft der Tätigkeit dieses Institutes sehr stark schwächen. Und jetzt ist die Frage, was passiert? Denn es gab Stimmen, wo vermutet wurde, dass der Präsident diesen Beschluss nicht unterschreibt. Und jetzt ist die Frage, was passiert jetzt, wenn der Präsident nicht mehr da ist und der Direktor Kurtyka auch nicht mehr da ist, der eben ein sehr konsequenter Historiker war auf der Linie von dem Präsidenten Kaczynski. Also es ging um die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, sehr radikal und sehr konsequent.

Und jetzt haben wir eine politische seltsame Situation, eine ungewollte, unerwartete Hegemonie der Bürgerplattform, denn die Präsidentenschaft in Vertretung hat der Parlamentschef übernommen nach der Verfassung, wie es vorschriftlich heißt. Der Komorowski ist jetzt an der Spitze des Landes und er ist zugleich auch Kandidat für die Präsidentenschaft in der Situation, wo die größten Kandidaten oder Gegenkandidaten nicht mehr da sind. Das heißt Szmajdzinski von der linken Seite und wahrscheinlich auch Lech Kaczynski, der sich noch nicht erklärt hat, ob er kandidieren wird, aber die Vermutungen waren sehr stark.

Karkowsky: Dann bedanke ich mich an dieser Stelle für das Gespräch mit der Warschauer Kulturwissenschaftlerin und Professorin an der Viadrina, Bozena Choluj. Ihnen vielen Dank! Sie hat uns informiert über die Auswirkungen der polnischen Katastrophe auf die polnische Gesellschaft.
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