Gedichte von Jelena Schwarz

Lyrischer Dialog mit der Weltkultur

06:00 Minuten
Auf dem Cover des Buches von Jelena Schwarz verschwimmen Schwarz- und Rottöne. Jelena Schwarz steht in kleinen Lettern, "Buch auf der Fensterbank" in größeren.
© Matthes & Seitz

Jelena Schwarz

Übersetzt von Daniel Jurjew

Buch auf der Fensterbank und andere GedichteMatthes & Seitz, Berlin 2022

108 Seiten

20,00 Euro

Von Olga Hochweis · 04.04.2022
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Heldinnen und Fabelwesen aus der römischen oder chinesischen Mythologie flitzen durch die Gedichte von Jelena Schwarz. Die russische Dichterin beherrscht die Maskerade und das Verwechslungsspiel - in strenger Versform.
Die Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin Jelena Schwarz (1948 -2010) war eine vielverehrte Figur der inoffiziellen Leningrader Literaturszene. Auch heute bekannte Dichterinnen wie Polina Barskova oder Maria Stepanova hat sie inspiriert. In der Sowjetunion zirkulierten Schwarz' Gedichte ausschließlich im Samizdat (Selbstverlag) und wurden kopiert unter der Hand weitergereicht – weit über Leningrad hinaus. Als 1989 der erste Gedichtband von Jelena Schwarz offiziell erscheinen konnte, soll er am selben Tag ausverkauft gewesen sein.

Fantasievolle Verkleidungsspiele

Die studierte Theaterwissenschaftlerin und Tochter einer bekannten Dramaturgin lebte vor allem von Übersetzungen von Theaterstücken für Leningrader Bühnen.
Das Spiel mit Stilisierung und Verkleidung prägte nachhaltig auch ihre fantasievolle und sehr belesene narrative Lyrik und gab dem Werk einen Glanz, der im Alltag fehlte. Die Wirkung beschrieb der Dichter und Zeitgenosse Oleg Jurjew im lesenswerten Vorwort: „Sie hat mir (und nicht nur mir) den Glauben an die Vollwertigkeit meiner Zeit geschenkt, die Möglichkeit, in meiner Zeit ohne bequeme Hoffnungslosigkeit zu leben.“
Jelena Schwarz entführt ihre Leserschaft in unterschiedlichste Kontexte und Zeiten. Die mehrseitigen Gedichte schöpfen Stoff und Themen aus der Bibel genauso wie aus der Zarenzeit des 18. Jahrhunderts, aus dem Alten Rom oder aus der Tragödie der Leningrader Blockade.

Römische Heldin Cynthia

Als lyrisches Subjekt und sogar vereinzelt auch als Autor  werden (buchstäblich) „fremde Federn“ präsentiert: so etwa die Gedichte über die Beziehung einer Fuchsfee aus der chinesischen Mythologie zu einem erfundenen estnischen Dichter namens Arno Zart, der als offizieller Schöpfer dieser Werke genannt wird.
Humor und der Spaß an der Maskierung spielen bei Jelena Schwarz immer wieder eine Rolle.
Ihrem mehrseitigen Gedichtzyklus „Cynthia“ aus der Ich-Perspektive der gleichnamigen römischen Heldin in den Elegien von Properz stellt sie die Worte voran: „Ihre Gedichte sind nicht erhalten, aber ich habe trotzdem versucht, sie ins Russische zu übersetzen.“

Strenges Formbewusstsein

Die freigeistige Imagination klingt immer wieder wie ein verspielter Dialog mit der Weltkultur – auch in formaler Hinsicht. Das strenge Formbewusstsein (und feste Reimschemata) vieler Gedichte hat der Übersetzer Daniel Jurjew nur in begrenztem Maß übernommen –zugunsten von freiem Vers.
Beibehalten hat Jurjew jedoch den Alexandriner in einem der programmatischen Gedichte von Jelena Schwarz mit dem Titel „In Nachahmung Boileaus“. Der titelgebende Autor einer Regelpoetik des französischen Klassizismus hatte sein Werk ebenfalls im sechshebigen Jambus verfasst.
Schwarz formuliert in diesem Gedicht ihre Poetik –  mit Blick auf das Verhältnis zwischen Dichter und Gott. Tatsächlich erschafft sie – quasi gottgleich – in ihren Gedichten individuelle, kleine Welten zwischen Freude und Trauer.

In Nachahmung Boileaus

„Gedichte mag ich, die einer Trambahn gleichen,
sie klingeln, poltern zwar, Flug spenden ihre Weichen,
doch ihre Scheiben geben, wenn auch krumm,
Palästen, Höfen, Mondlicht Abbild stumm.
(…) Der Dichter ist ein Aug, wird dir sich noch enthüllen,
Für einen Atemzug darf´s mit der Gottheit brüllen,
Das Auge hängt heraus und blutig ist der Faden,
Mit Schmerz und Ruhm der Welt durch Gottesbund beladen.“
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