"Jeden Abend Krieg"

Von Dagmar Just · 30.10.2012
Das war keine Lyrik, das war der Aufruhr: 1909 veröffentlichte der Italiener Filippo Tommaso Marinetti sein "Futuristisches Manifest". Der Text des späteren faschistischen Kulturministers wirkte wie eine vom Wahnsinn diktierte Anstiftung zum Weltbrand.
Vor 100 Jahren landete der italienische Millionärssohn Filippo Tommaso Marinetti den größten Coup eines Dichters in der Geschichte des Abendlands: "Legt Feuer an die Bibliotheken! Überschwemmt die Museen! Vernichtet das Krebsgeschwür der Professoren!" Den Lesern seines im konservativen Pariser "Figaro" abgedruckten "Futuristischen Manifests" muss der Bissen im Halse steckengeblieben sein: "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibs!"

Nur vier Jahre nach der russischen Revolution muss jeder, der lesen konnte, geahnt haben: Das war keine Lyrik, das war der Aufruhr. Die wie vom Wahnsinn diktierte Anstiftung zum Weltbrand. Sie erwies sich als genaue Entsprechung zum Lebensgefühl breiter Massen und bewirkte einen revolutionären Flächenbrand, ohne den die europäische Moderne, die zwei Weltkriege, der Faschismus, der Nationalsozialismus, und die Nachkriegsordnung, inklusive '68, anders ausgesehen hätten.

Bogenartig auf der Massenseele spielend, machte der geniale Selbstvermarkter, Massenanimateur und spätere faschistische Kulturminister die Kunst zur hochexplosiven Waffe, die durch Skandal und Provokation, Anarchie, Aktivismus, Körperkult und Technikfetischismus die Welt veränderte.

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