Jean Giono: "Ein Mensch allein"

Ein Stück Weltliteratur in neuer Übersetzung

Coverabbildung Jean Giono: Ein Mensch allein, im Hintergrund eine verschneite Landschaft mit einem verschwommenen einzelnen Menschen.
Zerrissene Seelen in einem französischen Bergdorf: Jean Gionos "Ein Mensch allein" von 1946 © Cover: Die andere Bibliothek, Foto: Deutschlandradio
Von Wolfgang Schneider · 04.02.2019
Mensch und Wolf - zwei Routiniers des Tötens: Jean Gionos neu übersetzter Roman von 1946 über einen Wolfsjäger in den französischen Alpen ist große Lektüre. Bestechend sind vor allem Gionos andeutungsreiche Sprache und sein bissiger Humor.
Auf seine vierjährige Erfahrung als Frontsoldat des Ersten Weltkriegs reagierte der französische Schriftsteller Jean Giono (1885-1970) mit einem konsequenten Pazifismus, der ihm zunächst große Verehrung, mit Beginn des Zweiten Weltkriegs aber auch den Ruf des Defätismus einbrachte. Zweimal wurde er inhaftiert, und auch wenn die Vorwürfe der Kollaboration haltlos waren, wurde er den Ruf des politisch Suspekten doch nicht mehr los.
Sein jetzt in der fabelhaften Neuübersetzung von Caroline Vollmann wiederzuentdeckender Roman "Ein Mensch allein" entstand in der Phase eines Publikationsverbots 1946. Das Werk markiert nicht nur formal einen Umbruch, es ist auch geprägt von einer untergründigen, durchaus unpazifistischen Gewaltfaszination. Von der Verklärung einer urtümlich-heimatlichen Gebirgswelt kann hier keine Rede mehr sein; vielmehr herrscht eine unheilschwangere Atmosphäre, als deren Emanation die Hauptfigur, der Polizeioffizier Langlois, erscheint.

Faszinierende Hintergründigkeit

Schauplatz ist ein hoch gelegenes Dorf in den französischen Westalpen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit einiger Zeit verschwinden hier Menschen, wenn sie mal kurz das Haus verlassen. Es zeigt sich: ein unheimlicher Fremder geht um. Und tötet. Langlois, ein so unnahbarer wie charismatischer Mann, quartiert sich mit einigen Beamten im Dorf ein. Erst nach mehreren Wintern gelingt es ihm, den Mörder ausfindig zu machen. Er tötet ihn mit zwei Schüssen. Die Selbstjustiz wird als "Unfall" verschleiert.
Langlois verlässt den Polizeidienst und lässt sich bald darauf im Dorf nieder, als Hauptmann der Wolfsjagd. Ein besonders grausamer und listiger Wolf treibt sein Unwesen. Ein "Routinier" des Tötens, "dem es egal war, ob er in den Fabeln von Lafontaine vorkam oder nicht". Nach einer grandios geschilderten Treibjagd bringt Langlois auch dieses kapitale Tier mit zwei Schüssen zur Strecke.
Mit faszinierender Hintergründigkeit deutet der Roman einen Zusammenhang zwischen der Menschen- und der Wolfsjagd an. Der so distinguiert auftretende Langlois steht im Bann des Blutes auf frischem Schnee. Der Roman liefert keinen Schlüssel zu seinen Handlungen (auch wenn kurz von traumatischen Kriegserlebnissen in Afrika die Rede ist), aber er umkreist beharrlich das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Wobei das tiefste Rätsel womöglich darin besteht, dass Langlois ein Mensch "wie die anderen" sei. Am Ende begeht er auf verstörende Weise Selbstmord.

Zerrissene Seelen in den französischen Bergen

So spannend die Geschehnisse – das eigentliche Ereignis ist Gionos Sprache. Er bricht hier mit dem archaisierenden Stil seiner Vorkriegsromane und entwickelt eine vertrackte Erzählweise voller Andeutungen, Perspektivwechsel und bissiger Humoristik. Es ist eine fingierte Chronik der Ereignisse, eine Manier des Hörensagens und des mündlichen Berichts. Verschiedene Sprecher sind zu vernehmen, individuelle und kollektive Stimmen. Das letzte Drittel hat allerdings nicht mehr ganz die Kraft der vorhergehenden Partien, leidet an einem Zuviel des Ominösen.
Eine große Lektüre ist dieser von Wolfgang Matz mit einem glänzenden Nachwort versehene Roman aber allemal. Vieles wird hinreißend beschrieben: die winterliche Berglandschaft unter Schnee- und Wolkenlasten, die gewaltige Buche beim Sägewerk, aus deren im Nebel verschwindenden Ästen der Mörder eines Tages heruntergestiegen kommt, die Atmosphäre eines in Angst erstarrten Dorfes und nicht zuletzt die knorrig-grotesken Charaktere, die sich dort oben in den Bergen eingefunden haben, Alteingesessene und Weithergereiste, zerrissene Seelen, die sich schlecht in die bürgerliche Welt von "Ehrbarkeit und Camembert" fügen.
Dies ist Weltliteratur, und man dankt der "Anderen Bibliothek" die Wiederentdeckung.

Jean Giono: "Ein Mensch allein"
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann
Mit einem Essay von Wolfgang Matz
Die Andere Bibliothek, Band 408, Berlin 2018
288 Seiten, 42 Euro

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