Javier Marías: "So fängt das Schlimme an"

Tiefenbohrung in der Vergangenheit

Der spanische Schriftsteller Javier Marias
Der spanische Schriftsteller Javier Marias © picture alliance / dpa / Javier Lizon
Von Sigrid Löffler · 23.09.2015
"So fängt das Schlimme an" von Javier Marías spielt im Jahr 1980, als in Spanien die Scheidung noch verboten war. Marías schildert das "lange, unauflösliche Unglück" der Ehe zwischen einem Filmregisseur und seiner Frau.
Der spanische Autor, Übersetzer und Essayist Javier Marías, Jahrgang 1951, wurde vom deutschsprachigen Lesepublikum im Jahr 1996 entdeckt. Sein Roman "Mein Herz so weiß" wurde ein Bestseller und allein im deutschen Sprachraum 1,3 Millionen Mal verkauft. Seit damals ist Marías ein Weltautor mit Millionen-Auflagen und vielen Auszeichnungen.
In den Nuller-Jahren ging Marías acht Jahre lang in Klausur – mit seiner 1700 Seiten umfassenden Roman-Trilogie "Dein Gesicht morgen", zugleich Spionage-Story, Zeit-Historie, Ideenroman, metaphysisches Epos, Eheroman und Gespenster-Geschichte.
Javier Marías schreibt weltläufige urbane Metropolengeschichten von heute, oft in Form von metaphysischen Thrillern, in denen er gelassen mäandernd die Herrschaft des Zufalls in der Welt vorführt und das Chaos dann mit Nonchalance in eine komplexe literarische Ordnung bringt. Seine Romane sind elegante Erzählungen aus dem gebildeten, gut situierten, lebens- und redegewandten europäischen, vorzugsweise dem spanischen Bürgertum.
In diesem Milieu spielt er seine charakteristischen Themen und Motive durch: die endlosen Missverständnisse und Verrätereien zwischen Mann und Frau; die Fragwürdigkeiten, Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Liebe; die Mühseligkeiten, Ungewissheiten und Waghalsigkeiten beim Versuch, heute eine Ehe zu führen.
Darum geht es auch in Marías’ neuestem, seinem 14. Roman, dessen Titel abermals ein Shakespeare-Zitat ist, aus Hamlets Bemerkung zu seiner Mutter: "So fängt das Schlimme an". Es geht um einen lang zurückliegenden, subtilen Betrug zwischen Eheleuten, um Verrat, Rache, Erpressung, Bespitzelung, heimliche Lauschangriffe und die Macht von Gerüchten, aber (wie fast immer bei Marías) auch um die toxischen Nachwirkungen des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur in der spanischen Gesellschaft.
Als Ehescheidung in Spanien noch verboten war
Der Roman spielt 1980 in Madrid, zu einer Zeit, als Ehescheidung in Spanien noch verboten war, und erzählt das "lange, unauflösliche Unglück" der Ehe zwischen einem berühmten Filmregisseur, Eduardo Muriel, und seiner Frau Beatriz. Der Roman-Erzähler ist Muriels junger Assistent, Juan de Vere, der zeitweilig bei dem Ehepaar wohnt und so Zeuge des qualvollen und gewalttätigen Konflikts der Eheleute wird und allmählich auch dessen Ursache erfährt. Schließlich wird er selbst in den Ehekrieg hineingezogen.
Der zweite Erzählstrang betrifft einen anrüchigen Auftrag Muriels an seinen Assistenten: Er soll dessen alten Freund, einen angesehenen Madrider Arzt, bespitzeln, indem er sich in dessen Vertrauen schleicht. Dabei stellt sich heraus, dass dieser Arzt ein sexueller Erpresser ist, dessen unethisches Gebaren seinen guten Ruf als Franco-Gegner zerstören müsste, würde es bekannt.
Wie immer geht es Marías um eine Tiefenbohrung in der Vergangenheit – um Erinnerung und deren Täuschungen und Unzuverlässigkeiten. Muriel ist der Rächer, der die Vergangenheit vor das Gericht der Gegenwart bringen möchte – eine Vergangenheit, die seine Ehefrau und sein Freund gerne vergessen machen würden, die Ehefrau ihren vergangenen Betrug, dem schlimmen Grundstein ihrer schlechten Ehe, und der Arzt seine vergangenen Erpressungen.
Wieder einmal erweist sich Marías als Moralist und Pessimist, und dies in einem ebenso mäandernden wie suggestiven Roman, der ihn auf der Höhe seiner Meisterschaft zeigt.

Javier Marías: "So fängt das Schlimme an"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main, 2015
640 Seiten, 24,99 Euro
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