Jan Wagner: "Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa"

Auf elegant mäandernden Umwegen

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Buchcover "Der glückliche Augenblick" von Jan Wagner
Die Essays in "Der glückliche Augenblick" sind nur scheinbar beiläufig. © Deutschlandradio / Hanser Berlin
Von Helmut Böttiger · 07.05.2021
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Der Band "Der glückliche Augenblick" des Büchnerpreisträgers Jan Wagner versammelt Essays, Reiseskizzen und Porträts. Ein Buch, das beiläufig daher kommt, aber wunderbar subjektiv vom Eigensinn der Literatur und von ihrer subversiven Kraft handelt.
Einen großen Teil des ästhetischen Reizes von Jan Wagners Gedichten macht das scheinbar Beiläufige aus. Es hat deshalb eine schöne Doppelbedeutung, wenn er seine Texte, die nicht auf den ersten Blick lyrisch sind, mit der Bezeichnung "Beiläufige Prosa" versieht.
Das Programmatische zeigt sich schon darin, dass er jetzt auch den zweiten Band mit Essays, Reiseskizzen, Porträts und Dankesreden mit dieser Genrebezeichnung versieht. Unter der Hand wird damit signalisiert: Hier geht es nicht um die übliche Art von Sekundärliteratur, sondern immer auch um die Poetik des Dichters Jan Wagner.

Büchner als Bote

Bei seiner Dankesrede zum Georg Büchner-Preis 2017 nähert sich Wagner dem feinsinnig-revolutionären Namenspatron dieser Auszeichnung auf eleganten, poetisch mäandernden Umwegen.
Er hebt einen Umstand hervor, dem bisher eher wenig Aufmerksamkeit gegolten hat: Beim riskanten, zehn Stunden dauernden Fußweg von Butzbach nach Offenbach, wo seine umstürzlerische Flugschrift "Der hessische Landbote" gedruckt werden sollte, trug Büchner das gefährliche Manuskript versteckt in einer Botanisiertrommel mit sich.

Prägung durch englischsprachige Kultur

Wagner evoziert sogleich einen Borkenkäfer, der sich vielleicht darin verirrt hat, oder etwas Schleierkraut. Und das hat nichts Nebensächliches oder bloß Verspieltes, sondern führt direkt zum Naturwissenschaftler Büchner, der die Flussbarbe sezierte und seine Dissertation über das Nervensystem dieser Fische schrieb.
Der scharf analytische Dichter und Denker Büchner und die durch Erfahrung beglaubigte Sensibilität seiner Sprache treten hier ganz ungewohnt ins Licht. Und besonders scharf umrissen, weil Wagner auch daran erinnert, wie sehr Büchner in Straßburg "monatelang nach Fisch gestunken" haben muss.
Die Prägungen durch die englischsprachige Kultur, die sich in solch illusionslos-realistischen Vergegenwärtigungen zeigen, können sich bei Jan Wagner aber auch in empathischen Huldigungen ausdrücken, etwa von John Keats oder Dylan Thomas.
Und wenn er bei seinem Nachruf auf John Ashbery gleich eingangs die Bemerkung von dessen Kollegen Philip Larkin zitiert: "I’d prefer strawberry", schwingt die ganz andere Praxis englischer Nachrufe mit, bei der auch Ironie möglich ist.
Der Berliner Dichter Richard Pietraß indes dürfte bei seinem 70. Geburtstag über kaum etwas glücklicher gewesen sein als über Wagners launig-tiefsinnigen Glückwunschtext.

Überraschend deutliche politische Stellungnahme

Die Gegenstände dieser Prosastücke sind nicht auf einen Nenner zu bringen, doch es gibt auch einige grundsätzliche poetologische Essays. Der titelgebende "flüchtige Augenblick" stammt aus Wagners Überlegungen zu Poesie und Fotografie, einem glänzenden Selbstkommentar des Autors.
Und wenn er sich anlässlich des 150. Geburtstags von Stefan George sehr differenziert von diesem selbst ernannten Olympier abgrenzt, ist das auch eine überraschend deutliche politische Stellungnahme.
Dieses Buch, so beiläufig es auch daherkommt, handelt wunderbar subjektiv vom Eigensinn der Literatur und von ihrer subversiven Kraft.

Jan Wagner: "Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa"
Hanser Berlin, Berlin 2021
300 Seiten, 25 Euro

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