Jan Böttcher: Das Rosen-Experiment

Ärger erzeugen, um ihn zu erforschen

06:13 Minuten
Auf dem Cover von "Das Rosen-Experiment" ist eine gemalte Frauenfigur in einem Sessel sitzend zu sehen, während sie in ein Notizbuch schreibt. Darunter der Buchtitel und der Autorenname.
© Aufbau Verlag

Jan Böttcher

Das Rosen-ExperimentAufbau , Berlin 2022

367 Seiten

23,00 Euro

Von Elke Schlinsog · 30.08.2022
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Berlin in den 1920er-Jahren: Psychologie-Doktorandin Zenia Naujas erforscht in ihrem „Rosen-Experiment“ die Dynamik des Ärgers. Eindrucksvoller Roman, der eine flirrende Epoche einfängt und zugleich die Tür zur Gegenwart weit offenhält.
„Wir machen Ärger, Helene!“ – so der Ausruf der Heldin Helene in Jan Böttchers neuem Roman. Zenia Naujas ist Doktorandin der Psychologie an der Universität zu Berlin, Wissenschaftlerin mit Leib und Seele, charismatisch und eigenwillig – und eine genaue Beobachterin.
Für Glanz und Glitter der Garderoben im Berlin der Goldenen Zwanziger hat sie wenig übrig: „Also wirken Gesichter, je freier sie sich fühlen sollen, nur umso verkrampfter“.

„Wir machen Ärger, Helene!“

Ende der 1920er-Jahre gehört sie zum Kreis des charismatischen Psychologieprofessors Zadek, der zu Affekthandlungen forscht. Die Studentin widmet sich lieber der Dynamik des Ärgers. Angefangen beim versteckten Schlüsselbund ihres Freundes, den sie zur Weißglut bringt, bis zum bahnbrechenden Rosen-Experiment: „Wir müssen den Ärger schon erzeugen, um ihn zu betrachten.“
Gleich auf den ersten Seiten macht der Berliner Schriftsteller und Musiker Jan Böttcher deutlich, worum es ihm geht: Weniger um das schillernde Äußere des Berlin der 1920er-Jahre, vielmehr konzentriert er sich auf das Innenleben seiner Heldinnen und Helden.
Ein Wahrnehmungsbuch, atmosphärisch erzählt: Eindrücklich, wie bei ihm die Stadt in „Körperhaltungen zerfällt“: Die wenigen Krisengewinnler „tragen einen Stock im Kreuz, der Rest ist reine Menschenflut, die durch Berlin gespült wird“.
Berlin brodelt. In dieses Setting setzt Jan Böttcher zwei starke Frauenfiguren, deren Denken und Fühlen uns durch den Roman begleiten. Die hochbegabte Psychologin Zenia und ihre Freundin Helene, junge Berliner Kellnerin mit einem brillanten Gedächtnis, die ihre Assistentin wird.

Starke Frauen erforschen Ärger und Zorn

Der Auftrag des Professors lautet: Gemeinsam sollen sie die Affekte Ärger und Zorn wissenschaftlich erforschen. Dafür entwickeln sie das sogenannte Rosen-Experiment, laden Versuchspersonen vor, die in einer bizarren Versuchsanordnung eine entfernt stehende Blume greifen sollen. Sie stellen ihnen lösbare Aufgaben und eine unlösbare. Und wer den Ärger erforschen will, bekommt Ärger.
Gefluche, Wut und Zorn und schließlich Beleidigungen: Detailreich erzählt Jan Böttcher, wie unterschiedlich die Versuchspersonen auf die Aufgabe reagieren: Mancher sitzt still und ist bis ins Mark erschüttert. Eine andere läuft die ganze Zeit im Quadrat auf und ab und hat doch ihren Ärger im Griff.
Der Nächste ist davon gepackt, als hänge sein Leben von der Lösung ab. Sogar antisemitische Beschimpfungen brechen sich in einer Versuchsanordnung Bahn. Nicht nur subtil, sondern ganz unmittelbar hält das Experiment auch der Zeit den Spiegel vor.

Voller Gedanken und neuer Einsichten

Mit seinem „Rosen-Experiment“ bedient sich Jan Böttcher einer historischen Vorlage. Denn den Professor und die Wissenschaftlerinnen gab es wirklich, aus diesem Kreis gingen Pionierarbeiten der Affektpsychologie hervor.
In viele Primärquellen hat er sich vertieft, wie in den 1920er-Jahren das legendäre Kolloquium um den jüdischen Sozialpsychologen Kurt Lewin zu seelischen Spannungen forscht und zur Übersättigung und dabei das entdecken, was wir heute Burn-out nennen.
Oder dass wir uns an unerledigte Handlungen besser erinnern als an erledigte, weshalb uns „Cliffhanger“ und offene Ende besonders stark im Gedächtnis bleiben. So detailreich sich Jan Böttcher hier auf die Spuren der Affektforschung begibt, gibt er auch an, wie sich hier ein Fach emanzipiert mitsamt den jungen Wissenschaftlerinnen.

Wie gemacht für die Fragen unserer Gegenwart

„Man sollte zu Swing denken“, heißt es im Roman als Anregung für neue Gedankenassoziationen. In diesem Buch wird in so vielen Bewegungen, Kreisen, gar Pirouetten gedacht, Psychologie war selten so transparent.
Es ist voller Gedanken und neuer Einsichten, die wie gemacht sind für die Fragen unserer Gegenwart: Warum sich „unsere Spezies mitunter so sonderlich verhält, warum sie Kriege führt, warum sie den Rohling oder Raffke gibt, um im nächsten Moment die Sterne zu vermessen“.
All das liest man in diesem eindrucksvollen Roman, der eine flirrende Epoche einfängt und zugleich die Tür zur Gegenwart weit offenhält.
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