Jahrestag Tiananmen-Massaker

Auslandschinesen fordern endlich Aufklärung

Demonstranten setzten am 3. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) in Peking einen Panzer in Brand.
So sah es am 3. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens aus: Junge Demonstranten setzten in Peking als Ausdruck ihres Protestes gegen die Regierung einen Panzer in Brand. © picture-alliance / dpa / AFP
Von Ruth Kirchner, ARD-Korrespondentin in Peking · 04.06.2015
Am 26. Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste in Peking wollen chinesische Auslandsstudenten, dass die Hintergründe des Massakers aufgeklärt werden. Sie haben einen offenen Brief ins Netz gestellt und rütteln damit an einem Tabu. Bei der Rückkehr nach China drohen ihnen Repressalien.
Die meisten chinesischen Studenten wissen sehr wenig über die Ereignisse rund um den Platz des Himmlischen Friedens vor 26 Jahren. Mit Bildern des berühmten "Tank Man", des jungen Mannes im weißen Hemd, der sich '89 mit Plastiktüten in der Hand vor die heranrollenden Panzer stellte, können Pekinger Studenten von heute wenig anfangen:
"Ich weiß nicht, was das ist, sagt verunsichert diese Studentin und starrt auf die Bilder. 89? Politische Unruhen? Was für politische Unruhen?"
Die blutige Niederschlagung der Studentenproteste von '89 ist immer noch das große Tabuthema. Doch eine kleine Gruppe von chinesischen Auslandsstudenten in den USA, England und Australien will das ändern. Sie haben einen offenen Brief ins Netz gestellt an ihre Kommilitonen in China und fordern Aufklärung. Initiator des Aufrufs ist Gu Yi, der seit drei Jahren im Süden der USA Chemie studiert:
"Die Geschichte ist immer verschleiert worden. Die Überlebenden von damals werden verfolgt; die Angehörigen einiger Opfer werden schikaniert. Wir denken es ist unsere Pflicht, unseren Mit-Studenten in China die Wahrheit zu sagen."
Nichts den Eltern davon erzählt
Seit Gu Yi sich in den USA erstmals über den 4. Juni frei informieren konnte, nimmt er kein Blatt mehr vor den Mund. Der heutige Wohlstand in China stehe auf tönernen Füßen, heißt es in dem Brief. Am 4. Juni '89 hätte das Regime seine Legitimität verloren. Gu und seine Mitstreiter wissen, dass sie mit ihrem Brief ein hohes Risiko eingehen, wenn sie eines Tages nach China zurückkehren. Der Chemiestudent hat daher nicht einmal seinen Eltern im südwestchinesischen Sichuan von der Aktion erzählt. Er will nicht, dass sie sich Sorgen machen. Auch er hatte anfangs Angst:
Gu Yi: "Nach der Veröffentlichung des Briefes konnte ich nicht mehr schlafen. Aber wir dürfen uns von der Angst nicht überwältigen lassen. Wenn alle immer nur Angst haben und keiner wagt aufzustehen, wird die Wahrheit nie ans Licht kommen und wir und unsere Nachkommen werden auf ewig in Angst leben."
Der offene Brief ist in China zwar sofort der Zensur zum Opfer gefallen, trotzdem hätten auch Schüler und Studenten in der Volksrepublik ihre Namen darunter gesetzt, erzählt Gu Yi. Als eine Pekinger Zeitung die Verfasser als verblendete Handlanger des Westens beschimpfte, war das sogar noch kostenlose Werbung für den Aufruf. Trotzdem dürfte er wenig ändern am kollektiven Vergessen in China.
"Diese Dinge von damals, sagt dieser Student in Peking achselzuckend, ich weiß zwar ein bisschen was darüber, aber das sind Angelegenheiten der Regierung um die wir uns nicht kümmern. Darüber braucht man nichts zu wissen. Heute geht es uns gut, das reicht doch."
Die jungen Chinesen im Ausland sehen das anders. Wie auch die Tian'anmen-Mütter, eine Sammelbewegung von Angehörigen der Opfer von '89. Auch sie haben zum 4. Juni wieder einen Brief veröffentlicht. Diesmal zitieren sie Regierungschef Li Keqiang, der im März Japan aufgefordert hatte, sich zu seiner Kriegsvergangenheit zu bekennen. Eine Staatsführung, so Li, erbe nicht nur die Erfolge ihrer Vorgänger sondern müsse auch die historische Verantwortung für deren Verbrechen tragen. Müsste Chinas Regierung, so die Tian'anmen Mütter, dann nicht auch Verantwortung für die Verbrechen ihrer Vorgänger übernehmen? Eine Antwort haben die Mütter nicht erhalten. Auch ihr Brief darf in China nicht veröffentlicht werden.
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