Jahresrückblick fast ohne Corona

2020: Was wir noch zu sagen hätten

69:59 Minuten
Dreidimensionaler Papercut von einer Rakete die 2020 hinter sich lässt
Farewell 2020 © Gettyimages / vavectors
Von Johannes Nichelmann, Christine Watty, Katrin Rönicke, Julius Stucke, Emily Thomey und Robin Droemer · 24.12.2020
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Der Jahresrückblick im Kulturpodcast findet als Gespräch über kleine und große Themen statt, die Corona erfolgreich verdrängt hat. Hier und da schummelt sich das Virus trotzdem mit rein - aber es geht um vieles mehr.
Es ist zwar keinesfalls so, dass der Kulturpodcast 2020 ausschließlich mit Corona beschäftigt war. Trotzdem stehen im Zentrum dieser Ausgabe Themen oder Fragen, die vielleicht lauter besprochen worden wären, hätte uns das Virus nicht immer wieder abgelenkt. Aufgezeichnet wurde das Gespräch am 16. Dezember.
Wir fangen leicht an mit einem Blick auf die Bedeutung des Netzwerks Tiktok, ästhetisch und kulturell. Gemessen am unglaublichen Erfolg eines 15-Sekünders des Tiktok-Nutzers Doggface. Er performte auf seinem Skateboard zu ein paar Zeilen aus dem Song "Dreams" von Fleetwood Mac und verhalf damit dem Song nach 43 Jahren wieder an die Spitze der US-Charts – und dem 73-jährigen Mick Fleetwood per Antwort-Clip zu einem lustigen Tiktok-Auftritt. Warum ist dieser Clip in all seiner Kürze so berührend?

Die Pandemie auf Netflix

Wir sprechen außerdem – und hier geht’s dann doch noch mal Corona – über die Bonusfolge der Dokuserie "Lenox Hill" von Netflix, die schon Mitte des Jahres dokumentiert hat, was geschieht, wenn eine Pandemie mit aller Macht auf die Infrastruktur eines Krankenhauses trifft. Ein Ärzteteam der Klinik "Lenox Hill" in New York steht im Fokus der Serie. Die Zuschauer und Zuschauerinnen begleiten die Ärztinnen und Ärzte im Kampf gegen tödliche Gehirntumore und beim Einsatz in der Notaufnahme einer flirrenden Stadt. Die Folge, die die Staffel beschließt, und von den Machern und Macherinnen so nicht vorauszuahnen war, fällt in den Beginn der Ausbreitung von Covid-19 in den USA – und ist mit Sicherheit eines der schmerzlichsten frühen Zeitdokumente der Pandemie.
Historisches Dokument einer Serie
Während wir in Europa nämlich noch darüber nachdachten, wie man Corona und seine Folgen eigentlich zeigen kann, gelangte die Pandemie so schon in den Serienstream. Berührender als vieles andere ist das sicherlich auch deshalb, weil die Ärztinnen und Ärzte, im Lauf der Staffel kennengelernt als klassische "Halbgötter in Weiß" und versehen mit Nerven aus Beton, nach und nach die Fassung verlieren. Weil sie in den überfüllten Gängen ihres Krankenhauses stehen, geplante OPs absagen müssen und sich die Kühltrucks hinter dem Krankenhaus mit Verstorbenen füllen – während ihr Präsident noch behauptet, alles im Griff zu haben. Hätte diese Serienfolge aus dem Sommer 2020 mehr Beachtung bekommen müssen? Als Warnung an den Rest der Welt?

Aufmerksamkeitsfragen während Corona

In welchem Europa wollen wir leben? Junge Filmemacherinnen und Filmemacher sollten für das Festival "Europa im Film" des Auswärtigen Amtes ihren Blick auf den Kontinent und die Wertegemeinschaft preisgeben. Herausgekommen sind teils düstere Werke und ernüchterne Dokumentarfilme wie "Hotel Europa". Wir fragen im Podcast, ob wir zu wenig auf Bedeutun,g Versagen und Gelingen der Europäischen Union im Jahr 2020 geschaut haben. Und wie es sein kann, dass der Journalismus zu einer Art kurzzeitigen Lokal-Ausgabe seiner selbst werden konnte. Ist das menschlich?

Offenbart uns die Pandemie unsere Aufmerksamkeitsschwächen, in den Medien, aber vielleicht auch persönlich? Und wo wir schon beim Thema sind, fragen wir uns auch selbst, wie es eigentlich mit dem Interesse für den Klimawandel und seine Folgen aussieht. Ein Interview im rbb des Journalisten Jörg Thadeusz mit der Transformationsforscherin Maja Göpel hat vor Kurzem einige aus dem Dämmerschlaf gerüttelt. Dieses Interview scheint wegen einiger Dissonanzen auf den ersten Blick zwar schiefgelaufen. Die unnachgiebig auf Argumente setzende Maja Göpel, dabei spürbar ungeduldig und zugleich präzise, glitzerte sich so allerdings sehr formvollendet in die leicht verblasste öffentliche Diskussion rund um das "andere" große Thema 2020. Braucht es also mehr solcher kontroverser Gesprächsmomente?

Im Kaninchenbau des Internets

Außerdem stellen wir den Podcast "Rabbit Hole" der New York Times vor. Dieser Podcast erzählt detailliert, wie man sich im Internet verirren und schließlich reinziehen lassen kann in einen unendlich düsteren Kosmos aus Verschwörungsmythen und rechtsextremem Gedankengut. Er zeigt, welchen Einfluss Algorithmen haben und wie man da wieder rauskommt – und schließlich, welche Rolle Youtuber-Persönlichkeiten beim Exit spielen können. Ein Thema, das auch zur weiterführenden Frage führt: Wie sieht das eigentlich in Deutschland aus?

Das Potenzial eines Charity-Songs

Und schließlich noch ein Charity-Song: "Bist Du wach?" heißt er und wurde nach den rassistischen Morden von Hanau im Februar dieses Jahres von 18 Künstlerinnen und Künstler veröffentlicht. Wurde dieser Song eigentlich genug wahrgenommen? Welche Rolle spielte er beim Versuch, Aufmerksamkeit und Verarbeitung des Anschlags voranzutreiben? Und wieso erscheinen Betroffenheit und Anteilnahme nach rechtsextremen Anschlägen immer wieder eher verhalten?
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