Jagoda Marinić über Gemeinnützigkeit

"Die Demokratie ist nicht Angelegenheit der Finanzbeamten"

04:12 Minuten
Ein Gedenkstein der VVN, auf dem steht: "Die Opfer der imperialistischen Willkür mahnen die Lebenden - Kämpft für den Frieden" steht darauf.
Ein Gedenkstein der VVN: "Die Opfer der imperialistischen Willkür mahnen die Lebenden - Kämpft für den Frieden" © picture alliance / dpa-Zentralbild / ZB / Klaus-Dietmar Gabbert
Jagoda Marinić im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 28.11.2019
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Der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt. Die Autorin Jagoda Marinić unterstützt den Protest gegen die Entscheidung. Sie befürchtet, dass zivilgesellschaftliches Engagement entpolitisiert wird.
Anfang November hat die Berliner Finanzverwaltung entschieden, der 1947 gegründeten "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten" die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Als ein Grund wurde angegeben, der bayerische Verfassungsschutz stufe den dortigen Landesverband als linksextremistisch beeinflusst ein.
Gegen die Berliner Entscheidung wandte sich die Ehrenvorsitzende Esther Bejarano, selbst Auschwitz-Überlebende, in einem offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Mit Blick auf die alltäglich gewordene Bedrohung durch den Rechtsextremismus schrieb sie: "Das Haus brennt - und Sie sperren die Feuerwehr aus!"
Esther Bejarano im Porträt
Esther Bejarano überlebte als Mitglied des "Mädchenorchesters" Auschwitz.© imago / Jürgen Heinrich
Von diesem Brief sei sie "schockiert" gewesen, sagt die Schriftstellerin Jagoda Marinić, "dass wir einer 94-jährigen Holocaust-Überlebenden diese Arbeit überlassen. Ich dachte einfach: Jetzt müssen alle raus":
"Sie gibt Olaf Scholz oder überhaupt Finanzbeamten hier Unterricht in deutscher Geschichte und erinnert daran, warum es in Deutschland Antifaschismus gibt, warum man hier darauf achten muss, wie politische Freiheit, wie Minderheiten geschützt werden."

Umgang mit der Zivilgesellschaft

Es gehe hier auch um Solidarität, so Marinić. "Nie wieder" müsse auch heißen: "Nie wieder allein". Auch in Ludwigsburg sei einem soziokulturellen Zentrum die Gemeinnützigkeit entzogen worden, weil dort Kapitalismus kritisch hinterfragt oder über Anarchismus geredet werde:
"Ich sehe hier eine Gefahr - denn Olaf Scholz arbeitet auch an einer grundsätzlichen Richtlinie und sagt: Es darf nicht zu politisch werden, die politische Willensbildung soll den politischen Parteien überlassen werden. Also, welches Demokratieverständnis ist hier am Werk und wie geht das mit Zivilgesellschaft um?"
Jagoda Marinic im Porträt
Die Autorin, Kolumnistin und Kulturmanagerin Jagoda Marinic© imago images / ZUMA Press / Sachelle Babbar
In der Demokratie sei das Volk der Souverän, und das zentrale Instrument jenseits von Wahlen sei das zivilgesellschaftliche Engagement, so Marinić:
"Das zu depolitisieren, das Gefühl zu geben, nur Parteien dürfen das und nicht mehr die Bevölkerung, halte ich für einen schwierigen Moment. Mir geht es schon darum, dass wir Olaf Scholz auf die Finger gucken und sagen: Es ist aber die Demokratie nicht Angelegenheit der Finanzbeamten."
(bth)

Das vollständige Gespräch mit Jagoda Marinic hören Sie hier:

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