J.M.A. Biesheuvel: "Reise durch mein Zimmer"

Geniale Erzählungen eines gebeutelten Kranken

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Das Buchcover "Reise durch mein Zimmer" von J. M. A. Biesheuvel ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Einen Roman schrieb der niederländische Schriftsteller J.M.A. Biesheuvel nie, dafür aber Hunderte Erzählungen. © Deutschlandradio / Faber & Faber Verlag
Von Katharina Borchardt · 21.04.2021
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In den Niederlanden stehen J.M.A. Biesheuvels Erzählungen fast in jedem Bücherschrank. Hierzulande ist dieser große Meister der kleinen Form kaum bekannt. Nun sind vier seiner Geschichten erschienen: über Reisen, Familie, Liebe – und Depressionen.
Manchmal weinte Maarten Biesheuvel in aller Öffentlichkeit. Auch im März 2013 im niederländischen Fernsehen, als er seinen "Brief an Vater" vorlas, eine vierseitige Anrufung des bereits toten Vaters, in der der Schriftsteller die eigenen Schwächen und Ängste aufzählt und seinen Vater vergeblich um Hilfe bittet.
Biesheuvel (1939-2020) war manisch-depressiv – und er machte daraus kein Hehl. Beim Satz "Vader, ik voel me schuldig omdat ik geen plezier heb" schluchzte der Autor auf, ins Deutsche leider arg locker übersetzt mit: "Pa, ich fühle mich schuldig, weil ich keinen Spaß habe."

Großer Meister der kleinen Form

Der "Brief an Vater" ist einer von vier Texten in Biesheuvels nun erschienenem Erzählband "Reise durch mein Zimmer". Ein autobiografischer und doch literarischer Text – wie alle Geschichten von J.M.A. Biesheuvel, der Maarten genannt wurde und als großer Meister der kleinen Form gilt. Einen Roman schrieb er nie, Erzählungen aber Hunderte.
In den Niederlanden zeichnete man ihn dafür mit großen Literaturpreisen und nationalen Orden aus, während man ihn in Deutschland kaum richtig entdeckte.
Seine erste Übersetzung mit dem herrlichen Titel "Schrei aus dem Souterrain" (1986) blieb singulär und ist lange schon vergessen. Insofern kann man die nun erschienene Sammlung mit vier – warum eigentlich nur vier? – Geschichten als Neuentdeckung feiern und auf weitere Übersetzungen hoffen.

Exzeptionelle Geschichten

Denn Maarten Biesheuvels Geschichten sind exzeptionell – an und für sich, aber auch innerhalb der realistischen Erzähltradition der Niederlande. Oft beginnen auch sie ganz realitätsnah im Privaten: Sie erzählen von der Familie, von Treffen mit Freunden oder vom Reisen.
Einige Figuren werden einem daher schnell vertraut, etwa der protestantische Vater, der ebenfalls zu Depressionen neigt, oder Biesheuvels Ehefrau Eva, die zeitlebens liebevoll für ihren Maarten sorgt.

Mysteriöser Mopedfahrer auf dem Wasser

Dramaturgisch ist der neue Band klug aufgebaut: Er beginnt mit "Moped auf hoher See", einer der berühmtesten Geschichten Biesheuvels, nach der sich gerade auch eine neue Literatursendung im niederländischen Fernsehen benannt hat: "Brommer op zee".
In dieser Geschichte sieht ein Schiffsjunge einen mysteriösen Mopedfahrer übers Wasser fahren, der ihn aber leider nicht mitnehmen will. Eine Geschichte, die von Verlassenheit genauso erzählt wie von unstillbarem Fernweh.
Grundgefühle bei Biesheuvel, der gerne mehr gereist wäre, es aufgrund seiner Depressionen aber nicht konnte.

Texte wirken wie nebenbei erzählt

Danach schließt sich die umfangreiche "Reise durch mein Zimmer" an, mit der Biesheuvel nicht nur sein Arbeitszimmer beschreibt, sondern zugleich eine kleine Autobiografie vorlegt. Es folgen ein sehr kurzer surrealistischer Text über das Versetzen des Matterhorns sowie der "Brief an Vater".
Diese Anordnung ist deshalb so geschickt, da sie wie ein Trichter wirkt. Immer näher kommen wir Maarten Biesheuvel dabei, diesem gebeutelten Kranken und genialen Erzähler. Seine herzöffnenden Texte wirken wie nebenbei erzählt, stecken aber voll literarischer Anspielungen und aberwitziger Poesie.

J.M.A. Biesheuvel: "Reise durch mein Zimmer"
Aus dem Niederländischen übersetzt von Ulrich Faure
Mit Illustrationen von Peter K. Kirchhof
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2021
120 Seiten, 20 Euro

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