J.L. Carr: "Ein Monat auf dem Land"

Geschichte eines glücklichen Sommers

Blick auf das Dorf Abbotsbury mit der Pfarrkirche St. Nicholas in Dorset im ländlichen England
Der junge Fremde wohnt und arbeitet einen Monat lang im Turm der Dorfkirche. © imago / Joana Kruse
Von Manuela Reichart · 01.08.2016
Ein junger kriegsversehrter Restaurator steht im Zentrum von "Ein Monat auf dem Land": Er kommt in ein nordenglisches Dorf, um in der Kirche ein altes Gemälde freizulegen. J.L. Carrs Erzählung war 1980 für den Booker Preis nominiert und ist nun auf Deutsch erschienen.
Ein glücklicher Monat auf dem Land. Eine Erinnerung an den Sommer 1920, - als die Zukunft noch vielversprechend, die Vergangenheit schrecklich war. Ein kleines Dorf in Nordengland, in Yorkshire: Ein junger Mann steigt aus dem London-Zug, er trägt einen zu langen Mantel:
"Er stammte aus Vorkriegszeiten, schätzungsweise aus dem Jahr 1907, erstklassiges Material, noch die gute alte Qualität, dicker Fischgrät-Tweed. Er reichte mir bis zu den Knöcheln; sein ursprünglicher Besitzer musste ein gut betuchter Riese gewesen sein."

Die Restaurierung eines verborgenen Bildes

So beginnt diese Geschichte eines Sommers. Der Fremde ist gekommen, um das mittelalterliche Wandgemälde in der Dorfkirche freizulegen. So sieht es das Testament einer reichen Gönnerin vor, die ihre Zuwendung an die Gemeinde abhängig macht von der Restaurierung dieses verborgenen Bildes. Kein Arrangement, das den unfreundlichen jungen Pfarrer erfreut, der die Kirchenbesucher nicht gerne von Bildern abgelenkt sieht.
J.L. Carr, der 1912 in Yorkshire geboren wurde (gestorben 1994), ist ein bei uns ganz unbekannter Autor, der lange Lehrer war, bis er 1966 einen eigenen Verlag gründete, in dem er nicht zuletzt seine eigenen Bücher veröffentlichte. Diese – jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienene - Erzählung ist sein bekanntestes Werk, es wurde 1980 für den Booker Preis nominiert, fürs Radio adaptiert und 1987 mit Colin Firth und Kenneth Branagh verfilmt.

Leiden unter den Folgen des Krieges

Im Zentrum der Geschichte steht der junge Restaurator, ein Kriegsversehrter, der unter Gesichtszuckungen leidet und stottert. Der Arzt hatte im versichert, diese Folgen eines "Granatenschocks" würden sich mit der Zeit besseren. Er wohnt und arbeitet im Kirchturm, er hat wenig Geld, seine Frau hat ihn verlassen. Keine guten Zeiten also für den jungen Mann, der betont, er sei kein Künstler, sondern ein Arbeiter, der das Werk eines Künstlers wieder zum Leben erweckt. Das tut er in den folgenden Wochen. Er lernt die freundlichen Dorfbewohner kennen und schätzen, springt einmal als Laienprediger ein, besucht ein todkrankes Mädchen. Und er befreundet sich mit einem Archäologen, der nur ein paar Jahre älter ist als er, sein Zelt nahe der Kirche aufgeschlagen hat und nach einem Grab sucht, in dem ein Vorfahre der verstorbenen alten reichen Dame außerhalb des Friedhofs bestattet worden sein soll.
Der Ich-Erzähler erinnert sich an diesen Sommer, wie er später keinen mehr erlebt hat, an seine (erste selbständige) Arbeit, das Glücksgefühl, als er erkennt, dass der mittelalterliche Künstler ein wirkliches Kunstwerk geschaffen hat, an die Mittagessen bei der Familie des Bahnwärters, an seine unschuldige Liebe zur schönen Frau des Pfarrers.

Ruhige und genau beobachtete Stimmung

Es liegt eine ruhige und genau beobachtete Stimmung über dieser Erzählung, die von einer Zeit erzählt, als alles noch möglich scheint und niemand ein Empfinden dafür hat, dass es vieles bald nicht mehr geben wird: Die Pferdewagen, die Strohhüte der Frauen...
Carr erzählt eine berührende und kluge Sommergeschichte, die an Rilkes Herbstgedicht ("Der Sommer war sehr groß") denken lässt und sehr weit weg ist von den Aufregungen, die in Turgenjews Stück gleichen Titels herrschen. Es geht um Erinnerung und Unschuld, aber auch um den Schrecken des Krieges, denn der verlässt die Überlebenden der Schützengräben nicht mehr.

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land
Erzählung
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Dumont Verlag, Köln 2016
158 Seiten, 18 Euro

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