Ivy Pochoda: "Diese Frauen"

Verloren am Rand der Gesellschaft

02:52 Minuten
Cover des Kriminalromans "Diese Frauen" vor orangefarbenem Aquarellhintergrund. Das Cover zeigt eine junge Frau mit langen lockigen Haaren im Blumenkleid, sie sitzt auf einem Bett und raucht. Auf dem Bett hinter ihr liegt noch eine andere Person, die bis auf eine Unterhose nackt ist.
Ein Serienkiller mordet in Los Angeles: Ivy Pochoda interessiert die Frage, was die Gewalt mit den Opfern und der Gesellschaft macht. © Deutschlandradio / Ars Vivendi
Von Ulrich Noller · 22.10.2021
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Ivy Pochoda bürstet in "Diese Frauen" das Serienkiller-Genre gegen den Strich. In ihrem kunstvoll erzählten Kriminalroman nimmt die Autorin die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen ein.
"Diese Frauen": Im Grunde zeigt der Titel von Ivy Pochodas Kriminalroman bereits sehr genau, worum es hier geht. Diese Frauen, das sind die Frauen, die mit einem leicht verächtlichen Tonfall erwähnt werden, wenn man überhaupt über sie spricht, Barkeeperinnen, Tänzerinnen, Prostituierte.
Was ist so ein Leben wert? Nicht so viel in einer von sexistischer Gewalt geprägten Gesellschaft; auch in den meisten Krimis nicht, da sind sie eher Staffage. Ivy Pochoda macht das anders, sie kehrt die Verhältnisse um: Diese Frauen sind es, bei denen sie genau hinschaut, die sie ernst nimmt und die sie vom Rand ins Zentrum rückt.

Die Opfer stehen im Mittelpunkt

Ein Serienmörder tötet Frauen, die im Nachtleben unterwegs sind, rund um die Western Avenue in Los Angeles. Es gibt eine Verbindung zu älteren Fällen, der Killer war wohl 15 Jahre inaktiv. Warum? Und was hat ihn dazu gebracht, wieder zu morden?
Diese Story ist in ihrer Struktur bekannt und sie wurde in zahllosen Serienkiller-Romanen und -Filmen immer wieder erzählt. Aber eben nicht so, wie Ivy Pochoda das macht. Ihr Roman besteht aus sechs ineinander verschlungenen Porträts von Frauen, die in irgendeiner Form mit dem unbekannten Täter und seinen Taten zu tun haben.
Sie sind auf verschiedene Weise betroffen von dieser Gewalt, die viele Leben zerstört: nicht nur die der Opfer, auch die der Hinterbliebenen, der Freunde und Freundinnen, der Nachbarn und Nachbarinnen, der Ermittler und Ermittlerinnen. Eine Gewalt, die strukturell und gesellschaftsprägend ist, und die letztlich auch mit dem (patriarchalen) Blick auf die Frauen am Rand zu tun hat: Das ist die Essenz dieser Geschichte.

Intelligent konstruiert

Ein Serienkillerroman? Natürlich, auch das. Das ist der Maschinenraum des Geschehens und der Bezugspunkt, um den die einzelnen Geschichten konzentrisch kreisen – in einer sehr intelligenten Konstruktion.
Beeindruckend ist aber vor allem, wie versiert und facettenreich Ivy Pochoda diese (Lebens-)Geschichten mit allen Mitteln der Kunst erzählt, wie offen und sorgsam sie in Milieus eintaucht. Und wie sie dabei das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen korrespondieren lässt: Letztlich ist das Geschehen vor allem topografisch strukturiert, mit Blick auf die Orte und Perspektiven, die Gewalt bedingen.
Diese Frauen: Ivy Pochoda lässt sie zu Wort kommen, sie lässt sie Fragen stellen, sie macht sie vom Nebensächlichen zum Eigentlichen. Indem sie ihnen nahe rückt, ihre Leben erzählt, uns Leserinnen und Leser dabei gebannt mitnimmt, gibt sie den Betroffenen ihr Leben zurück. Diese Frauen, auch sie haben ihre Würde, selbstverständlich. Wie erstaunlich, dass man darüber überhaupt sprechen muss! Das ist das eigentliche Geheimnis, das dieser Roman enthüllt.

Ivy Pochoda: "Diese Frauen"
Aus dem Amerikanischen von Sigrun Arenz
Ars Vivendi, Cadolzburg 2021
356 Seiten, 23 Euro

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