Ivan Vladislavić - "Double negative"

Südafrikanische Realitäten

Ein Wähler in einer Wahlkabine in Soweto
Mühsam sucht der Ich-Erzähler seinen Platz im neuen Südafrika. © dpa / picture-alliance / Ihsaan Haffejee
Von Claudia Kramatschek · 16.11.2015
In Ivan Vladislavićs Roman "Double negative" kommt der Ich-Erzähler aus dem Exil in London zurück nach Johannesburg. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt stößt er auf die dunklen Ränder einer Nation, die sich anschickt, die eigene Geschichte neu zu schreiben.
2006 veröffentlichte der südafrikanische Schriftsteller Ivan Vladislavić ein literarisches Porträt jener Stadt, in der er seit Anfang der 1970er-Jahre zu Hause ist. "Johannesburg. Insel aus Zufall" bezieht seinen Reiz dabei vor allem aus jenem ästhetischen Verfahren, das als prägendes Kennzeichen des Schriftstellers Ivan Vladislavić angesehen werden darf.
Immer richtet sich sein Blick nämlich auf vermeintlich Nebensächliches – doch eben aus den Nebensächlichkeiten entwirft er eine präzise Kartographie jener Welt, die Gegenstand all seiner Bücher ist: Südafrika. Er selbst kommt 1957 in Pretoria zur Welt, wächst mithin noch unter dem Verdikt der Rassentrennung auf. In den 80er-Jahren arbeitet er als Lektor im oppositionellen Verlag "Ravan Press"; 1989 veröffentlicht er seinen ersten Erzählband.
Fortan begleitet er die gesellschaftlichen Entwicklungen in seiner Heimat als Schriftsteller und Essayist, so etwa auch in seinem jüngsten Roman "Double negative". Im Mittelpunkt des Romans – der Ende der 80er einsetzt und aus drei Teilen besteht – steht Neville Lister, ein junger Studienabbrecher und Vladislavićs Ich-Erzähler, der sich wünscht, als Weißer das "echte Leben" kennenzulernen – den Schmutz und das Leid, das für die Schwarzen vorgesehen ist.
So kommt sein Vater auf die Idee, ihn für einen Tag mit dem berühmten Fotografen Saul Auerbach zusammen zu bringen, der als visuelles und moralisches Gedächtnis Südafrikas gilt. Jahre später – der Roman vollzieht just nach diesem Tag einen Sprung, soeben wurde die Apartheid überwunden – kehrt der Ich-Erzähler aus seinem selbst gewählten Exil in London zurück nach Johannesburg.
Grundlegende Fragen
Mühsam sucht er, der selbst Fotograf geworden ist, seinen Platz im neuen Südafrika. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt kehrt er daher auch an jene Orte zurück, die er mit Auerbach besucht hatte – und stößt auf die dunklen Ränder einer Nation, die sich anschickt, die eigene Geschichte neu zu schreiben.
Was wie ein Krimi anmutet, kommt dabei ohne jeden Plot getriebene Action und ohne jede Epik daher. Ivan Vladislavić vermittelt das Unheimliche, das diesen Roman unterfüttert, einerseits in den Metaphern, die er verwendet: Überwachungskameras sitzen "wie Krähen auf den Mauern", wie "Gebissreihen" blecken Zettel auf einer Anzeigetafel ihre Zähne.
Zugleich setzt er die grundlegenden Fragen, die ihn umtreiben, anhand emblematischer Details wortwörtlich ins Bild: Von welchen Bildern ist unsere Wahrnehmung und damit unsere Geschichte überschattet, ergo gefiltert? Und sind die Geschichten, die wir von unserem Leben entwerfen, insofern nicht immer schon nachträgliche Fälschungen? Und: Wie kann demnach die Kunst von etwas so Komplexen wie der südafrikanischen Realität ein Bild entwerfen?
Die Antwort liefert wie ein Bild-im-Bild eines der Porträts, das Auerbach an jenem Tag mit Neville gefertigt hatte: Es zeigt eine Schwarze, die eines ihrer Drillinge verlor, weil die Kohlenpfanne ihrer kleinen Behausung in Brand geraten war. Auerbach rückt die Mutter mit den beiden verbliebenen Kindern in den Vordergrund, im Hintergrund aber sieht man unscharf ein Bild der Drillinge – Echo und Schattenriss eines Lebens in Armut und Unterdrückung. Von der hohen Kunst eben solcher Beiläufigkeit lebt auch "Double negative".

Ivan Vladislavić: "Double negative"
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
A1 Verlag, München 2015
252 Seiten. 19,80 Euro

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