Islamwissenschaflterin über Terrorgefahr

"Es fehlt uns an einer differenzierten Betrachtung"

11:11 Minuten
Der Französische Premierminister Jean Castex und die Bürgermeisterin von Paris Anne beim Gedenken an das Attentat vor dem Veranstaltungsort Bataclan in Paris.
Frankreichs Premierminister Jean Castex und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo beim Gedenken an das Attentat vor dem Bataclan - einem der Terrororte vor fünf Jahren. © imago images / Alexis Sciard
Ulrike Freitag im Gespräch mit Nicole Dittmer · 13.11.2020
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2015 töteten Islamisten in Paris 130 Menschen. Wird die Terrorgefahr von der Politik noch immer unterschätzt? Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag meint, es fehle vor allem an klaren Positionen gegenüber Parallelmilieus, die nach eigenen Gesetzen lebten.
Am heutigen 13. November wurde in Frankreich der Opfer der islamistischen Terroranschläge vor fünf Jahren in Paris gedacht. Wie sicher können wir uns heute fühlen – etwa mit dem jüngsten Anschlag in Wien vor Augen?
Die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter meint: Die Politik verharmlose den radikalisierten Islam noch immer. Und: Es werde zu wenig Grundlagenforschung dazu betrieben.
Die Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag, Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient und Professorin an der Freien Universität Berlin, rät zu einer differenzierten Betrachtung. Islamismus werde zunächst einmal als ideologischer Begriff verwendet. Man dürfe ihn nicht mit dem gewaltbereiten und gefährlichen Dschihadismus gleichsetzen. Zudem habe der Hass auf den Westen sehr viele verschiedene Ursachen. Auch die müssten gesondert betrachtet werden.

"Wie wollen wir uns politisch positionieren?"

"Ich glaube nicht, dass es uns an wissenschaftlichen Einsichten fehlt", betont Freitag. "Ich glaube, es fehlt uns tatsächlich an einer differenzierten Betrachtung und dann an einem differenzierten Herangehen an diese unterschiedlichen Gruppierungen."
Wie mit Terrorverdächtigen verfassungs- und polizeidienstlich umgegangen werde, sei relativ klar. Für sehr viel schwieriger hält Freitag die Frage: "Wie wollen wir uns politisch postionieren vis-à-vis denjenigen, die in diesen Parallelmilieus leben – die etwa versuchen, nach der Scharia zu leben oder die sich weigern, Mädchen zum Sportunterricht zu schicken. Wie wollen wir mit denen umgeben? Und wie wollen wir mit jenen türkischstämmigen Deutschen oder auch Türken umgehen, die sich lieber von Herrn Erdogan als von Herrn Steinmeier begeistern lassen?" Das seien Fragen, die sich unmittelbar auf die Gesellschaft bezögen und nicht unbedingt "mit Forschung zum Islamismus beantwortet werden können".
(mkn)
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