Radikalisierung

Einmal Islamismus und zurück

60:08 Minuten
Der Koran liegt in der Justizvollzugsanstalt JVA Kassel I auf einem Tisch in einer Zelle.
Ein besonders bedeutender Ort der Radikalisierung scheinen Gefängnisse zu sein. (Symbolbild) © picture alliance / dpa / Swen Pförtner
Von Frank Drescher · 26.09.2022
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Rund 28.000 islamistische Extremisten gibt es in Deutschland. Warum junge Menschen in diese Szene abdriften, ist wenig bekannt. Die Radikalisierungswege von Rahim, Esmail und Tugay sind ganz unterschiedlich - aber alle drei fanden wieder hinaus.
Rund 28.000 islamistische Extremisten gibt es laut Verfassungsschutz in Deutschland - nur etwas weniger als Rechts- oder Linksextremisten. Warum junge Menschen in die islamistische Szene abdriften, darüber ist relativ wenig bekannt: Ein Faktor können persönliche Schicksalsschläge sein, etwa der frühe Tod des Vaters, die Trennung der Eltern oder andere traumatisierende Erfahrungen. Ein besonders bedeutender Ort der Radikalisierung scheinen Gefängnisse zu sein. Wer in einer Haftanstalt sitzt und Zeit hat über alles nachzudenken, scheint empfänglich für die Botschaften von Fundamentalisten.
Dabei ist es selbst für Experten bei jedem Fall aufs Neue eine Herausforderung zu bestimmen, wann die neu entdeckte Frömmigkeit in Extremismus umschlägt. Auch wenn es Probleme und ein Umfeld braucht: Extremist zu werden, ist immer eine individuelle Entscheidung.

Drei junge Erwachsene, drei Schicksale

Das zeigen auch drei junge Erwachsenene, die ihre Geschichten hier erzählen: Rahim, Esmail und Tugay – alle drei haben als Jugendliche und Heranwachsende persönliche Krisen durchlaufen – und sich dabei schleichend radikalisiert.
„Das war jetzt nicht explizit wegen meiner verstorbenen Tochter zu der damaligen Zeit. Es war auch allgemeine Überschneidungen, weil ich mich immer schon für die Religion interessiert hatte. Ja, und das war einer der Auslöser, der auch dazu geführt hatte, was religiös betrachtet, dann mit jemandem passiert, wenn man stirbt oder das Leben vorbei ist und das Ganze.“ So fing es bei Rahim an, mit Anfang 20. Rahim ist nicht sein richtiger Name. Der soll im Radio nicht zu hören sein. Seine Suche nach Antworten endet mit einer Haftstrafe wegen Terrorismus.
Esmail wiederum hatte schon etliche Vorstrafen wegen Gewalt, Diebstahl und Drogen. Schwere Körperverletzung bringt ihn 2007 mit Anfang 20 ins Gefängnis. Dort wird Esmail fromm – nicht nur sein echter Name, auch seine echte Stimme soll hier nicht zu hören sein – und radikalisiert sich.
„Da sagt er zu mir: „Bruder, mach’ Dir lieber Gedanken um die Strafe Gottes, nicht um die Strafe der Menschen. Was tun die Menschen? Geben uns hier ein Dach über dem Kopf, die geben uns essen, das ist doch keine Strafe!‘ Ich bin wieder in meinen Haftraum gegangen und habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, was dieser andere Gefangene mir gesagt hat. Und dann wollte ich auch so werden wie der Gefangene“, erzählt er.
Tugay ist Halbwaise. Als Teenager will er sein Schwulsein, von dem noch niemand weiß, wegbeten. Dabei entwickelt er einen religiösen Eifer, der auch für seine Familie zur Belastung wird.
„Es war ein großer Schock, dass ich feststellen musste, dass ich auf Männer stehe. Irgendwie war es immer da. Aber irgendwann habe ich festgestellt, ich bin schwul. Und ich dachte, der einzige Weg daraus muss eine extreme Auslegung des Islam sein“, berichtet Tugay. „Ich dachte, es ist etwas Schlechtes, etwas, was Gott nicht mag. Also kann die Heilung auch nur durch Gott kommen.“

Extremisten - die besseren Sozialarbeiter?

Irgendwann dämmerte ihnen, dass sie auf einem verheerenden Irrweg sind. Manche fanden Hilfe in der Familie, bei Institutionen und Organisationen.
„Die Islamisten, die Extremisten - das gilt übrigens auch für die Rechtsradikalen - sind die besseren Sozialarbeiter. Das heißt, sie merken viel besser, welche Menschen gerade anfällig, welche Menschen gerade auf der Suche, eine persönliche Krise machen, und sprechen sie an. Sie schaffen Bindung, Emotionen, machen Angebote“, sagt Ahmad Mansour, er ist Psychologe. Seit vielen Jahren führt er Extremisten von den religiösen Abwegen zurück, auf die sie sich begeben haben, und „deradikalisiert“ sie.
Der Psychologe Ahmad Mansour mit Halbglatze und Vollbart, in weißem Hemd und dunklem Jacket bei einem Vortrag
Ahmad Mansour ist Psychologe. Seit vielen Jahren führt er Extremisten von den religiösen Abwegen zurück, auf die sie sich begeben haben.© IMAGO / Rene Traut
Es ist nicht einfach, mit Extremisten ins Gespräch zu kommen, denn solange die Radikalisierten von ihrer Sache noch überzeugt sind, ist es schwer, sie überhaupt zu erreichen, weiß auch der Pädagoge und Politikwissenschafter Thomas Mücke, der ebenfalls seit vielen Jahren beim Ausstieg hilft.
„In erster Hinsicht muss ich direkt auf die Personen zugehen und davon ausgehen, dass sie ein hohes Misstrauen zu mir haben, und ich muss Interesse für die Person zeigen. Und dann kann ich versuchen, Türen zu öffnen, dass man ins Gespräch kommt“, sagt Mücke.

Brüchige Biografie

„Es geht nicht um Theologie. Es geht nicht um politische Auseinandersetzung. Es geht nicht um religiöse, neue Interpretation, sondern es geht darum: Was war in ihrer Biografie so brüchig? Was gab es da für Momente, die die Radikalisierung überhaupt ermöglicht haben? Und wie können wir diese Momente noch mal reflektieren und vielleicht auch sichtbarer machen und dadurch vielleicht auch einen gewissen Frieden finden mit diesen Krisen“, sagt Ahmad Mansour, der für die Berliner Beratungsstelle Hayat als Familienberater arbeitet und mit seinem eigenen Unternehmen MIND Prevention Lehrerinnen, Polizisten und Justizvollzugsbeschäftigte fortbildet.
„Wir müssen uns um diese Menschen kämpfen. Wir müssen das Gefühl haben, diese Gesellschaft will sie erreichen. Sie will sie gewinnen. Sie hat sie nicht aufgegeben.“ Das sei selbst dann noch möglich, wenn jemand bereits in ein Kriegsgebiet ausgereist ist – vorausgesetzt, es gibt jemanden, zu dem ein Extremist noch eine starke Bindung spürt.
Bei Rahim, Esmail und Tugay hat sich dieser Kampf gelohnt. Sie haben sich auf den Weg raus aus der Radikalisierung gemacht.

Es sprachen: Frank Drescher und Philipp Lind
Ton: Christiane Neumann und Christoph Richter
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Martin Hartwig

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