Internationale Perspektive

Rezensiert von Ernst Piper · 13.04.2008
Ihr Gemurmel ist stets präsent, aber zu den einschlägigen Jahrestagen schwillt der Chor der Veteranen an und wird zum Orkan. Im Moment ist das Jahr 1968 wieder in aller Munde. Der Historiker Norbert Frei bemerkt dazu:
"Als ihre eigenen Interpreten sind die ‚68er’ noch immer am ehesten bei sich. ‚68er’ zu sein, hieß schon damals und heißt bis heute, über ‚68’ zu reden: untereinander wie mit den Nachgeborenen. Es heißt, die Ergebnisse allen Redens und Streitens immer wieder neu zu ‚hinterfragen’ – und sich gerade so die Deutungshoheit über das Gewesene zu sichern. Das ist kein Frondienst im Steinbruch der Geschichte, sondern Narzissmus als selbstbestimmte Arbeit am Mythos. Der Historisierung aber entkommt man auch auf diese Weise nicht."

1968 war Norbert Frei noch ein Kind und das ist sein Vorteil. Ausgehend von der Erkenntnis, dass diese Zeit gerade in Deutschland überkommentiert, aber untererforscht ist, liefert er dem Leser einen mit 280 Seiten knapp gehaltenen, aber informativen Überblick.

Der Autor entzieht sich dabei der deutschen Neigung zur Nabelschau und nähert sich dem "rebellischen Jahrzehnt" mit einer internationalen Perspektive. Seine Darstellung ist in vier Hauptteile gegliedert. Der erste widmet sich den USA, dem Mutterland der Demokratie, das die wichtigsten Vorläufer und Vordenker der weltweiten Protestbewegung hervorgebracht hat. Es folgt die Bundesrepublik, sodann der "Protest im Westen", der in Japan, Italien, den Niederlanden und Großbritannien analysiert wird und zuletzt die "Bewegung im Osten", nachgezeichnet anhand der Geschehnisse in der ČSSR, Polen und der DDR.

Diese globale Perspektive erweist sich als fruchtbar. In all diesen entwickelten Industriegesellschaften war in jenen Jahren die Suche nach neuen Lebensformen ein Thema, die über die plakative Formel von "Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll" weit hinausging. Das Streben nach Emanzipation und Partizipation hat alle diese Gesellschaften dauerhaft verändert. In dem Maße, wie weiterführende Bildung nicht mehr nur die Sache einer kleinen Elite war, wurde auch die Reformbedürftigkeit der Hochschulen ein Thema. Studenten, überdurchschnittlich gebildet, artikulationsstark und zumeist noch ohne familiäre Bindungen, waren die Hauptträger der Rebellion, wobei es, etwa in Italien, immer wieder auch zu Verbindungen mit der Arbeiterbewegung kam. Auffallend ist, dass die Protestbewegungen in den ehemaligen Achsenmächten Deutschland, Italien und Japan tiefer gingen, länger dauerten und gewaltsamer waren als in Großbritannien, den Niederlanden oder Skandinavien. Das autoritäre Erbe erwies sich als schwere Hypothek. Die bundesdeutsche Gesellschaft der frühen Nachkriegsjahre, eine "kalte Gesellschaft" im Sinne von Claude Levi-Strauss, war der Versuch, in einem konsumorientierten, erinnerungslosen Hier und Jetzt historische Evolution einzufrieren. Umso eruptiver artikulierte sich dann der angestaute Modernisierungsbedarf.

In den faschistischen Diktaturen Westeuropas, in Portugal, Spanien und Griechenland, wie in den kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa musste es den Protestbewegungen, wo sie vorhanden waren, darum gehen, erst einmal elementare Freiheitsrechte durchzusetzen. Und in den Ländern der so genannten Dritten Welt standen Aspekte der sozialen und ökonomischen Benachteiligung im Vordergrund.

Das Jahr 1968 liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen der Konstituierung der Nachkriegsordnung 1948/49 und der Auflösung der Ost-West-Konfrontation 1989/90. Es markiert gewissermaßen die Wasserscheide der Nachkriegsgeschichte. Die Protestbewegungen, die damals kulminierten, hatten höchst unterschiedliche Erscheinungsformen, von der selbstgenügsamen Besinnung auf so genannte Gebrauchswerte in amerikanischen Landkommunen über psychedelisch inspirierte Flower-Power-Hippies, von den ostentativ jeder Bürgerlichkeit spottenden Provos in den Niederlanden bis hin zu den bemerkenswert militanten Zengakuren in Japan. Gemeinsam war ihnen die Suche nach einem Gegenentwurf zu einer Welt der totalitären Massenbewegungen und des unreflektierten Konsumismus, die Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", der Traum von einem besseren Leben.

Bei der Analyse der bundesdeutschen Protestbewegung geht es im Besonderen auch um die Frage nach ihrer Prägung durch die NS-Vergangenheit:

"Was die Studentenbewegung auch anfasste – es gab kein Thema, das nicht in die Vergangenheit und auf die Frage nach deren Fortleben in die Gegenwart zurückverwies oder doch zumindest so verstanden werden konnte. Mit jeder Vergegenwärtigung der Gesellschafts- und mehr noch der Elitenkontinuität war der Verdacht des Weiterwirkens der NS-Moral gleichsam unauflöslich verbunden, und vor dem Hintergrund des Menschheitsverbrechens an den Juden war dies ein in der Tat kaum zu ertragender Gedanke."

Die Chiffre 1968 steht für eine in vielem fruchtbare Infragestellung von Staat und Gesellschaft, nicht aber dafür, auf alle Fragen auch die richtigen Antworten gefunden zu haben. Die Bewegung zerfiel relativ bald in ganz unterschiedliche, zum Teil heftig miteinander rivalisierende Gruppen und Grüppchen. Manche wollten den bewaffneten Kampf der militanten Befreiungsbewegungen in die Metropolen tragen. Ihr revolutionärer Wahn hinterließ eine breite Schneise der Verwüstung in der deutschen Gesellschaft, aber Norbert Frei betont mit Recht:

"’68’ war mehr als die unter purer Gewalt begrabene utopische Aspiration. Und es war mehr als eine Geschichte von Aufstieg und Fall studentischer Macht. Schon ein kurzer Blick auf die Jahre danach lässt daran keinen Zweifel."

Die Stichworte Strafrechtsreform, Frauenbewegung, Umweltschutzbewegung, sexuelle Selbstbestimmung, neue soziale Bewegungen, Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten mögen an dieser Stelle genügen. Dies alles wirkt bis heute fort und wird es noch lange tun.


Norbert Frei: 1968. Jugendprotest und globale Revolte
dtv Verlag, München 2008
Norbert Frei: 1968
Norbert Frei: 1968© dtv