Instrumente der Ausplünderung

Christiane Kuller im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 03.06.2013
Mit Hilfe von "Arisierungen" und Sondersteuern wurden die Juden in Nazideutschland beraubt. Die Historikerin Christiane Kuller zeigt in einer Studie, dass die "ganz große Mehrzahl der Finanzbeamten" rassistische Kriterien bei ihren Entscheidungen angelegt hätten.
Klaus Pokatzky: "Die Finanzverwaltung war ein Tragpfeiler der nationalsozialistischen Herrschaft." So heißt es jetzt in einer Studie zur Rolle der Finanzpolitik im Nazi-System. Ihre mehr als 70.000 Beamten verwandelten "Judengut" in "Volksgut" und stabilisierten so die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. Der sogenannte "Arier" konnte sich freuen über das, was seinem jüdischen Nachbarn geraubt worden war. Verfasserin dieser Studie ist die Historikerin Christiane Kuller von der Freien Universität Berlin. Willkommen im Studio.

Christiane Kuller: Grüß Gott, Herr Pokatzky.

Pokatzky: Frau Kuller, kann geschätzt werden, annähernd wenigstens, welche Summen der Staat damals dabei eingenommen hat, als die Juden ausgeplündert, ausgeraubt wurden, und wie hoch der Wert war, was an die sogenannten "Volksgenossen" weitergegeben wurde?

Kuller: Das ist enorm schwer, das zu quantifizieren.Und ich will da vielleicht zwei Gründe nennen, warum das sehr schwer ist. Das eine ist, dass Gegenstände geschätzt wurden, zeitgenössisch, wenn jüdisches Eigentum geraubt wurde, vom Staat beschlagnahmt wurde, wurden da Werte in Tabellen eingetragen. Die Tabellen sind auch überliefert, die können wir heute alle lesen, die Werte entsprechen aber nicht dem tatsächlichen Wert. Die sind zum großen Teil viel zu niedrig angesetzt.

Das zweite ist, das wir in der Zeit einen Marktverfall haben, also bestimmte Preise – Sie können sich vorstellen, wenn viele Personen fluchtartig das Land verlassen müssen und versuchen, ihre Immobilien, ihr Eigentum, ihre Gegenstände zu verkaufen, dass die Preise in den Keller gehen. Man kann sagen, es ist mit Sicherheit ein Milliardenvermögen gewesen …

Pokatzky: Damals auch schon ein Milliardenvermögen in Reichsmark …

Kuller: Auch damals ein Milliardenvermögen. Allein die Judenvermögensabgabe, eine Sondersteuer, die nur Juden zahlen mussten, hat 1,12 Milliarden in den Staatshaushalt gebracht. Das ist ein erheblicher Anteil zur Stabilisierung der Staatsfinanzen im Dritten Reich gewesen. Ein zweiter Aspekt ist vielleicht noch, dass nicht nur ein quantitativer Wert von Bedeutung war, sondern Sie müssen sich vorstellen, dass ein Großteil der Beschlagnahmungen nach 1941 stattgefunden hat, das heißt, mitten im Krieg.

Pokatzky: Das war die sogenannte "Aktion 3", die zusammenhing mit der Deportation der Juden dann in die Vernichtungslager.

Kuller: Genau. Und die Deportierten durften nur einen Koffer und wenige Dinge mitnehmen und mussten ihr gesamtes Hab und Gut im Grunde zurücklassen. Und dieses Hab und Gut ist von den Finanzbeamten beschlagnahmt worden. Die sind in die Wohnungen gegangen, in die letzten Zimmer und haben dort ausgeräumt und diese Vermögensgegenstände beschlagnahmt. Und man muss sich vorstellen, dass in der Zeit in Deutschland solche Gegenstände nicht zu kaufen waren, die wurden gar nicht produziert. Das hat auch zu großem Unmut in der Bevölkerung geführt, dass Finanzbeamte die ersten waren, die sich auch selber Dinge nehmen konnten, zum Teil für ihre Behörden, zum Teil auch für den Privatbedarf, das musste man begründen.

Pokatzky: Und dann konnten die einfach mit nach Hause nehmen. Ohne dafür was zu zahlen?

Kuller: Manchmal mussten Sie bezahlen, manchmal auch nicht. Man konnte einen begründeten Antrag stellen, dass man bedürftig ist, und die kinderreiche Familie eines Finanzbeamten konnte auch sehr, sehr günstig oder manchmal sogar umsonst dort etwas bekommen.

Pokatzky: Was mussten dann die Finanzbeamten, die an dieser "Aktion 3" gegen die Deportierten mitgewirkt haben, was mussten die denn von der "Endlösung", was mussten die von Auschwitz wissen?

Kuller: Das ist eine ganz schwierige und ganz zentrale Frage, denn rein funktional kann man sagen, diese "Aktion 3", die Verwaltung und Verwertung des Eigentums der Deportierten war ein wesentlicher Beitrag dazu, dass diese Vernichtungspolitik funktionieren konnte.

Pokatzky: Es hat ja drei grobe Bereiche gegeben, wo die Juden ausgeplündert wurden. Einmal gab es die berühmte "Arisierung", also wo jüdisches Vermögen im Grunde ja enteignet wurde. Dann gab es die Maßnahmen gegen Juden, die auswandern wollten, denen eine Steuer aufgelegt wurde, dort wurden sie ausgeplündert – was war eigentlich die legale Basis für all diese Maßnahmen der Ausplünderung, des Raubes?

Kuller: Das ist ein ganz zentraler Punkt, denn nach 1945 haben sich Finanzbeamte ganz wesentlich darauf berufen, dass sie in der NS-Zeit, im Dritten Reich nur geltende Gesetze und Verordnungen ausgeführt hätten. Und tatsächlich gibt es einige Regelungen, antisemitische Regelungen, die vorschreiben, wie mit jüdischem Vermögen umzugehen sei. Und Finanzbeamte waren auch verpflichtet, diese Gesetze zu befolgen.

Pokatzky: Das waren aber Nazi-Gesetze, die erst nach 1933 gemacht wurden.

"Pervertierte "Reichsfluchtsteuer" wendet sich gegen die Juden"
Kuller: Genau. Und jetzt kommen wir aber auf den Punkt: Erhebliche Teile, ich würde sagen, der größere Teil der Beraubungsaktionen beruht auf Gesetzen, die gar nicht aus der NS-Zeit stammen. Und da kommen wir in den Bereich der Handlungsspielräume. Finanzbeamte hatten innerhalb der gesetzlichen Regelungen gewisse Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen, einen Entscheidungsspielraum, einen Ermessensspielraum. Und den haben die ganz, ganz große Mehrzahl der Finanzbeamten genutzt, um gegen Juden zu entscheiden, um rassistische Kriterien in ihre Entscheidungen einzubinden.

Ein Beispiel für die Anwendung älterer Gesetze in völlig neuem und pervertiertem Kontext ist die Reichsfluchtsteuer. Die Reichsfluchtsteuer gibt es seit 1931 und sie galt übrigens auch bis 1953. Sie war ursprünglich darauf ausgerichtet, dass Emigranten nicht ihr Vermögen ins Ausland bringen sollten, also sozusagen Emigranten an der Auswanderung zu hindern, um sie im Reich zu halten. Und 1933 kehrt sich das schlagartig ins Gegenteil um, weil ab 1933, und zwar sofort, mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wird die Vertreibung der Juden zum zentralen politischen Ziel. Und dadurch wird diese Reichsfluchtsteuer von einem Instrument, um Menschen von der Auswanderung abzuschrecken, zu einem Instrument der Ausplünderung an der Reichsgrenze.

Pokatzky: Welche Ermessensspielräume hätte denn der einzelne Beamte gehabt. Hätten die auch mal so Akten verschwinden lassen können, also die nicht jetzt auf den, ich sag mal in Anführungsstrichen "Judenstapel", sondern auf einen anderen Stapel?

Kuller: Das ist in den Akten fast nie belegt, dass es so richtig Sabotageakte zugunsten, zu Hilfe von Juden gibt. Ganz, ganz seltene Fälle, und in der Regel findet man die auch erst in Aussagen nach 1945, wenn die ehemaligen Opfer das auch erzählen und berichten, dass ihnen da geholfen worden ist. Was es allerdings gibt: Beispielsweise gibt es einen Fall in Hessen eines Finanzbeamten, dem es immer wieder gelungen ist, eine Familie von der Deportationsliste wieder runterzunehmen, weil er gesagt hat, er muss noch erst die Steuerfragen klären mit dieser Familie.

Pokatzky: Andererseits gab es aber auch Finanzbeamte, die Deportierten bis ins Vernichtungslager gefolgt sind.

Kuller: Das ist ein ganz interessanter Punkt. Denn es gibt im Finanzministerium, an der Spitze sozusagen, einzelne Beamte, die den Gesamtzusammenhang kannten. Die ganz große Mehrzahl der Finanzbeamten kannten die Gesamtzusammenhänge aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, aber wenn sie beispielsweise offene Vermögensfragen noch regeln wollten, gibt es mehrere belegte Fälle, in denen Finanzbeamte dem Deportationszug sozusagen hinterherrecherchieren und fragen: Wo sind die Leute, können die noch mal eine Unterschrift leisten? Und das geht bis hin in die Vernichtungslager hinein, dass da Anfragen gestellt werden. Und die Finanzbeamten mussten in dem Moment größere Zusammenhänge erkennen und sehen, das geht aus den Akten ganz eindeutig dann hervor, aus diesen Einzelfallakten.

Pokatzky: Wie legal blieb das denn dann auch nach 1945 beziehungsweise nach 1949, nachdem die Bundesrepublik gegründet war? Hatten denn da die Opfer, die überlebt hatten, die Ausgeraubten, Ausgeplünderten irgendwelche Möglichkeiten, wieder an ihr altes Eigentum heranzukommen?

Kuller: Es war möglich, die geraubten Gegenstände wiederzubekommen und das zu beantragen. Allerdings war damit nicht automatisch verbunden, dass die Finanzbeamten, die das durchgeführt hatten, auch irgendwie belangt worden wären. Und das hat zum Teil auch zu tiefer Verbitterung bei den ehemaligen Opfern geführt, die sehen mussten, es wird ihnen zwar vom Gesetz her zugesprochen, dass diese Steuererhebung illegal war, der Beamte, der das durchgeführt hat, der wird aber nicht zur Rechenschaft gezogen. Beziehungsweise der Beamte, der es im Ministerium entschieden hat, wird nicht zur Rechenschaft gezogen.

Pokatzky: Das heißt, die Beamten sind überhaupt nicht ausgetauscht worden. Die haben dann weiter in der bundesrepublikanischen Zeit ihre Arbeit gemacht. Und die Finanzbehörden waren dann am Ende ja auch für die Durchführung der sogenannten "Wiedergutmachung" verantwortlich. Das heißt, dieselben Leute haben dann was gemacht?

Kuller: Also, es gibt diese Fälle in erheblicher Zahl, dass ehemalige Finanzbeamte, die für die Enteignung zuständig waren, sozusagen als Experten für diese Vermögensfragen dann auch zur Wiedergutmachung mit herangezogen wurden. Allerdings muss man schon sagen, das stand dann auch sehr stark unter Aufsicht der Alliierten, die darauf geachtet haben, dass das schon im Sinne der ehemaligen Opfer durchgeführt wird. Aber wenn man sich die Akten dann anguckt, im Einzelfall ist es schon zum Teil sehr erschreckend, welche Kontinuitäten es da gibt im personellen Bereich und auch in der Art der Durchführung.

Pokatzky: Bis zum letzten Tag, bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 – welche Rolle hat da die Finanzverwaltung im Rahmen auch all der anderen Ministerien, die ja auch bis zum Ende funktionierten – Auswärtiges Amt und so weiter – gespielt?

Kuller: Das ist eine hochumstrittene Frage. Und lange Zeit gab es im Grunde die These, dass dieses Finanzministerium immer mehr an Einfluss verliert und immer unbedeutender wird. Auf der anderen Seite kann man feststellen, dass es dem Ministerium doch gelungen ist, seine Interessen, und das zielt unter anderem auch darauf, dass die Staatskasse gut gefüllt ist, dass eben hohe Einnahmen erzielt werden, dass es dem Ministerium gelungen ist, seine Interessen doch durchzusetzen.

Pokatzky: Christiane Kuller war das, herzlichen Dank. Ihr Buch "Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland" erscheint jetzt im Oldenbourg Verlag mit 480 Seiten.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Weitere Infos im Netz:

Website von Prof. Dr. Christiane Kuller an der FU Berlin
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