Inklusives Theaterfestival "No Limits"

Auf welchen Körper dürfen wir stolz sein?

Theater-Performerin und Aktivistin Neve Be auf der Bühne des HAU2 beim "No Limits"-Theaterfestival in Berlin
Theater-Performerin und Aktivistin Neve Be auf der Bühne des HAU2 beim "No Limits"-Theaterfestival in Berlin © Michael Bause
Von Elisabeth Nehring  · 13.11.2017
Beim "No Limits"-Theaterfestival in Berlin treten behinderte und nichtbehinderte Künstler auf. Die zentrale Frage: Was ist politisch in den performativen Künsten von und mit Menschen mit Behinderungen? Dabei werden auch verletzende persönliche Erfahrungen ausgetauscht.
Neve Be, die hier spricht, singt und tanzt, arbeitet als Performerin, Theatermacherin und Modell. Die amerikanische Darstellerin mit den dunklen Haaren bezeichnet sich selbst als queer, multi-gender (in diesem Fall: weiblich, aber nicht nur), mixed raced, also mit verschiedenen ethnischen Hintergründen – und Rollstuhlnutzerin.

Wer bestimmt, welcher Körper auf der Bühne tanzen darf?

Auf der Bühne des HAU2 vertont und vertanzt Neve Be gelebte disability- und gender-studies: Wer bestimmt, auf welchen Körper man stolz sein und welcher Körper auf der Bühne tanzen darf? Ihre poetischen, anspruchsvollen Texte über Selbstbestimmung und die Freiheiten eines Körpers jenseits der Norm korrespondieren mit ihrer Performance, bei der sie sich schlangengleich und sehr lustvoll aus dem Rollstuhl hinaus und wieder hineinschält.
Neve Bes Performance ist Teil des Abends "Tender Provocations of Hope and Fear", bei dem verschiedene Künstler mit und ohne Behinderung auftraten. So auch Mit-Initiator James Leadbitter, der aus seiner schweren klinischen Depression Kunst macht.

Performance als Rettung vor der Psychiatrie

In seiner Lecture-Performance "Ship of Fools" berichtet der freundliche Brite mit dem Schnauzbart in Texten und Bildern von seinem 28-tägigen Kunstprojekt, mit dem er einer Einweisung in die Anstalt entgangen ist. Diese Tage, so berichtet er vor seinem Laptop sitzend, waren gefüllt mit Besuchen von Freunden, Telefonaten mit Anwälten und Ärzten – und einem Online-Gesundheitstest auf Symptome von Selbstmordabsichten.
Aber James Leadbitter hat nicht die britische Notfallnummer 999 gewählt, sondern, zum Glück der Zuschauer, diesen erstaunlichen, witzigen, ehrlichen und bewegenden Performanceabend organisiert, in dem sich Kunst und Aktivismus überaus gelungen miteinander verbanden.
Sich den eigenen Ängsten stellen, Hoffnungen suchen, finden, verlieren und wiederbeleben – darum ging es nicht nur bei "Tender Provocations of Hope and Fear", sondern auch bei dem Symposium "Take Care", das über drei Tage dem No Limits-Festival eine theoretisch-akademische Note gab, zugleich aber auch tief in die persönlichen Erfahrungen verschiedener Behinderungen ging.
"Es gab viele Gründe, warum ich von meiner Familie weg wollte – aber die Art und Weise, wie sie dachten, mich pflegen zu müssen, war einer der wichtigsten."
Loree Erickson, rollstuhlfahrende Performerin und Verfechterin queerer Identitäten, berichtete in ihrem Vortrag von einem Modell von Pflege, das sie aufgrund fehlender finanzieller Mittel entwickelt hat. Da sie als Amerikanerin in Kanada keine Sozialhilfe erhält, hat sie ein "care collective" organisiert, in dem sie mit ihren ehrenamtlichen Pflegepersonen feste Freundschaften und sehr persönliche Verhältnisse eingeht.

Gesellschaftsrelevante Dimension der Pflege

"Ich organisiere meine Pflege unter der Prämisse, dass wir unsere Verletzlichkeit miteinander teilen. Wir sind zwei Menschen, die sich treffen und sich vollständig in die Situation miteinbringen. Wir kommen zusammen, reden, lachen und manchmal weinen wir auch. Die "Pflege" und damit das füreinander-Sorgen funktioniert also nicht nur in eine, sondern in verschiedene Richtungen."
Die gesellschaftsrelevante und aktivistische Dimension von Pflege – und damit von Themen wie Selbstermächtigung, Emanzipation und Ethik wurden gerade im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen und mitunter sehr beeindruckenden Performances und Lesungen von körperlich, geistig, psychisch oder nicht behinderten Künstlern und Künstlerinnen deutlich.

Atemberaubende Video-Performance

Eine blamable Ausnahme machte die Performance "Hypergamie - Hochzeit mit Hindernissen" der mixed-abled Theatercompanie dorisdean aus NRW, bei der die Zuschauer zu fiktiven Gästen einer Hochzeit zwischen einer körperbehinderten Frau und einem nicht behinderten Mann wurden. "Wie genau funktioniert so eine Partnerschaft?" sollte die Grundfrage dieses langen Performancemitmachabends werden, der aber über banalste Stereotype nicht hinauskam.
Was für ein außerordentlicher Gegensatz zu dem kürzesten Beitrag des No-Limits-Eröffnungswochenendes. Nur vier Minuten lang ist das Video "Wonderland", das der türkische Filmemacher Erkan Özgen von einem gehörlosen syrischen Jungen gedreht hat. Nur in Zeichensprache erzählt Mohammed von den Grauen, die er auf der Flucht vor dem IS erlebt hat.
Wie seine Hände schneidend an seiner Kehle vorbeifliegen und sein kindlicher Kopf nach einem angedeuteten Schuss nach vorne fällt, sein Körper tödlich getroffen kreiselt und taumelt – das ist, gerade in der vollkommenen Abwesenheit jeder Dramatisierung, so ungeheuerlich, wie es nur eine Kunst sein kann, die den Menschen und all seine Abgründe in den Mittelpunkt stellt.
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