Ingo Schulze: "Die rechtschaffenen Mörder"

Überall Abgründe

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Das Bild zeigt das Cover des neuen Buchs von Ingo Schulze. Es heißt "Die rechtschaffenen Mörder".
Ästhetisch wie politisch hoch reflektiert: Der neue Roman von Ingo Schulze. © S. Fischer Verlag / Deutschlandradio
Von Helmut Böttiger · 09.03.2020
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Die DDR war keine idyllische Nische: Ingo Schulze erzählt in seinem Roman "Die rechtschaffenen Mörder" von einem ostdeutschen Antiquar, der nach der Wende nach rechts abdriftet. Ein literarisches Vexierspiel über ostdeutsche Gefühlslagen und falsche Zuschreibungen.
Bei Ingo Schulze ist es selten so, wie es zunächst scheint. Er liebt das literarische Vexierspiel. Und er legt gern Fährten aus, die er dann immer mehr verwirrt, um plötzlich ganz woanders wieder neu anzusetzen. Auch seinen neuen Roman "Die rechtschaffenen Mörder" sollte man nicht unterschätzen. Am Ende weiß man noch weniger als vorher, aber das immerhin bewusst.
Es fängt an wie eine Novelle aus dem 19. Jahrhundert. Der erste Satz könnte von Kleist sein, aber mit der Zeit wird es noch arglistiger, der Text kommt mit einem altväterlichen Legendenton daher, dem man seit jeher misstrauen sollte.
Entwickelt wird die Geschichte des Dresdner Antiquars Norbert Paulini. Er ist ein Büchernarr, wie man ihn sich vorstellt, er hat immer schon gelesen, und als sich ihm in der überschaubaren Lebenswelt der DDR die Möglichkeit eröffnet, ein Antiquariat zu gründen, scheint alles im Reinen zu sein.

Weltabgewandte Tätigkeit

Es geht um Bücher, um das Lesen an sich, und obwohl er völlig unpolitisch wirkt, agiert Paulini in der DDR-Gesellschaft doch äußerst subversiv – er hat Bücher in den Regalen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, und viele lappen aus einer längst vergangenen Zeit herüber.
Diese Zeitlosigkeit ändert sich mit dem Herbst 1989. Der Beruf des Antiquars ist unter den neuen Bedingungen nicht mehr möglich.
Paulini kümmert sich zwar nicht um die Zeitläufe, er konstatiert höchstens mit Gottfried Benn den "leeren Raum um Welt und Ich", aber dann verliert er sein Haus, seine Frau (sie war bei der Stasi) und die Wertschätzung der Mitbürger, was seine weltabgewandte Tätigkeit betrifft. Am Schluss hat er sich in einen abgelegenen Ort in der Sächsischen Schweiz zurückgezogen und schwingt plötzlich rechtsradikale Reden.

Zeitgenössisches Unbehagen

Damit endet der lange erste Teil des Romans. Es folgen noch zwei kurze Teile, die die Irritation, die sich eingestellt hat, auf formal raffinierte Weise wiederaufnehmen, fortführen und völlig neue Perspektiven einnehmen. Es tritt ein Schriftsteller namens "Schultze" auf, der spielerisch mit autobiografischen Daten des Buchautors Ingo Schulze aufwartet.
Es kommt zu einer dramatischen Liebesgeschichte, die sich unerwartet als eine ménage à trois entpuppt und die politische Geschichte mit einer höchst emotionalen verknüpft. Und zuletzt spricht dann plötzlich die westdeutsche Lektorin jenes Autors "Schultze", der offenkundig den ersten Teil geschrieben hat, dann aber abbricht und Akteur eines Geschehens wird, das auch die Lektorin nicht mehr richtig überblicken kann.
Es geht um die Gefühle der Ostdeutschen, es geht um den Wunsch, diesen Gefühlen gerecht werden zu können, aber es geht auch um die falschen Zuschreibungen, die DDR rückblickend als eine idyllische Nische zu empfinden.
Ingo Schulze zielt mit seinem Roman mitten in ein zeitgenössisches Unbehagen, mit ausgefeilten Fragen, Antworten und Leerstellen. Ein Buch, das ästhetisch wie politisch hoch reflektiert, aber voller Abgründe ist.

Ingo Schulze: "Die rechtschaffenen Mörder"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
318 Seiten, 21 Euro

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