Indiens heilige Schrift Bhagavadgita

Zwischen Pazifismus und Populismus

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Eine Inderin berührt mit ihren Händen das Relief der in den Hindutempel eingemeiselten Bhagavadgita.
Zwiesprache mit dem Wagenlenker: Relief der Bhagavadgita an einem Hindutempel. © picture alliance / Godong / Philippe Lissac
Von Gerd Brendel · 19.05.2019
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Die Bhagavadgita gilt als berühmtester Text des Hinduismus. Die indische Regierungspartei BJP will sie zum heiligen Buch der Nation erklären. Vereinbar mit ihren Inhalten wäre das nicht. Ist Indiens Religionsfreiheit in Gefahr?
Die Wellen schlugen hoch im vergangenen Sommer, als die rechtskonservative BJP-Regierung des indischen Bundesstaates Maharashtra einen privaten Verein dabei unterstützte, die Bhagavadgita an staatlichen Colleges zu verteilen. Liberale und Linke sahen den säkularen Charakter des indischen Bundesstaates bedroht.

Briten erklärten Gita zur Quasi-Bibel des Hinduismus

Die Hindu-Nationalisten der Regierungspartei würden den "Gesang des Erhabenen" am liebsten zum "Rashtriya Granth", zum nationalen heiligen Buch erklären, was Nicht-Hindus wie Sikhs, Christen und vor allem Muslime ausschließen würde. Dabei geht die Vorstellung von der Bhagavadgita als Quasi-Bibel des Hinduismus auf die britische Kolonialzeit zurück.
"Als die Briten nach Indien kamen, fragten sie die Hindus nach ihrer Bibel, ihrem Koran, und bekamen keine eindeutige Antwort", sagt der Mythologe Devdutt Pattanaik.
"Also sagten die Briten: Wir finden das für euch, schließlich sind wir die Herren im Land. Die Veden fanden sie zu verwirrend, da entdeckten sie die GITA als heiliges Buch, weil sich aus ihrer Sicht darin sehr monotheistische Ideen finden."

Ein Dialog auf dem Schlachtfeld

Die Bücher des selbsternannten "Mythologen" Pattanaik, in denen er die hinduistische Götterwelt für die urbane Mittelschicht erklärt, sind Bestseller. "My Gita" lautet seine Interpretation des Dialogs zwischen Krishna und Arjun am Vorabend der Schlacht der Pandavas gegen ihre Verwandten, die Kauravas. Arjun schreckt davor zurück, gegen seine Cousins in den Krieg zu ziehen. Aber sein Wagenlenker, der "erhabene" Krishna selbst, zeigt ihm die Konsequenzen seines Handelns auf:
"Du bist das Produkt deiner früheren Leben. Das ist die Grundvoraussetzung im Hinduismus und in der Baghavadgita. Wie kann ich über dich urteilen. Alles im Leben ist Ursache und Wirkung. Was für dich funktioniert, muss nicht für mich funktionieren. Es gibt nichts Richtiges oder Falsches. Aber du musst Verantwortung übernehmen. Arjun macht das nicht. Er will nur die Vorteile seiner Königswürde. Er will nicht den Preis dafür zahlen."
Zwei Männer mit der Bhagavadgita in der Hand, lesend.
"Gesang des Erhabenen": Verehrer der Bhagavadgita lesen im ISKCON-Tempel.© picture alliance / Godong / Philippe Lissac
In der Baghavadgita spricht Krishna: "Es gibt kein höheres Gut für den Kshatrya" – einen Angehörigen der Kriegerkaste – "als die gerechte Schlacht".

Statt universelle Ethik: Moral im Plural

Weil es Arjuns Dharma entspricht. Aber was bedeutet Dharma? Moral? Ganz bestimmt nicht im Sinne einer universellen Ethik, so Pattanaik: "Was bedeutet Dharma ursprünglich: Sich selbst sein, das ist ein Problem: Um 'Sich selbst zu sein', muss man wissen, wer man ist."
Um entsprechend zu handeln: Die Moral eines Prinzen im Mahabarata ist nicht dieselbe wie die einer Computeringenieurin im Bombay von heute oder eines indischen Intellektuellen im Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft.
"Für die frühen Freiheitskämpfer im 19. Jahrhundert wurde die Gita ein wichtiger Text", sagt die Philosophin Bindu Puri: "Einer von ihnen, Lokmanya Tilak, rechtfertige mit der Bhagavadgita den Gebrauch von Gewalt gegen die Kolonialherren. Gandhi interessierte sich für den Text aus der entgegengesetzten Perspektive."

Ghandi: Gewaltlosigkeit statt Säbelrasseln

In ihren Seminaren an der JNU, der Neru-Universität, einer der wichtigsten Hochschulen in Neu-Delhi, beschäftigt sich Puri vor allem mit Gandhis Rezeption der Bhagavadgita. Den Widerspruch zwischen Krishnas Lob von Ahimsa – wörtlich "Nichtverletzen" – und seinem Rat an Arjun, in die Schlacht zu ziehen, löst Gandhi, indem "er sagt, dass die Gita eine Metapher ist. Es geht nicht um realen Krieg, sondern um den Krieg in uns", so Puri.
"Wem Lust und Leid, Gewinn und Verlust, Erfolg und Misserfolg, Liebe und Hass, Furcht und Erregung für gleich gelten, der ist in jedem Sinne frei."
Für menschliches Tun bedeutet das, ohne innere Anteilnahme zu handeln, ohne Interesse an Erfolg oder Misserfolg. Mein Handeln hat keinen besonderen Wert und meine Moral ist nicht wertvoller als die einer anderen Person. Die Philosophin dazu: "Für mich ist der schönste Ausdruck von Gewaltlosigkeit, andere Religionen und Moralvorstellungen mit einzuschließen in das eigene Handeln."

Indische Religionsfreheit in Gefahr?

"Im Hinduismus gibt es unendliche Wahrheit, nicht die eine Wahrheit", sagt Devdutt Pattanaik in seinem Bestseller "My Gita". Die Idee die Bhagavadgita zum nationalen Heiligtum zu erklären, tat er in einem Interview als "Lippendienst" am Hinduismus ab. Was Gandhi dazu gesagt hätte?
"Er betrachtet die Gita als Quelle säkularer moralischer Normen, die von allen geteilt werden", betont Bindu Puri. Und nicht als Quelle einer Staatsreligion. Im Lernstoff der Hochschulen kommt der Text vor, sagt die Professorin, aber: "Die Gita spielt im Curriculum nur eine Randrolle."
Narendra Modi steht am Mikrofon und hebt die Arme adressierend in die Luft.
Unterwegs im Namen Krishnas: Indiens Premierminister Narendra Modi im Wahlkampf.© picture alliance / Pacific Press / Saikat Paul
Im Indien von heute ergeht es der Bhagavadgita wie anderen heiligen Texten, die von der Politik instrumentalisiert werden. Der Inhalt spielt dabei keine Rolle. In der Fernsehdiskussion über die Freiexemplare für College-Studierende blieb der Bildungsminister von Maharashtra auf die Frage nach den 18 Kapitelüberschriften der Gita die Antwort schuldig.
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