Gewalt in Indien

Das Recht des Stärkeren in Gandhis Heimat

23:36 Minuten
Blick auf das Parlamentsgebäude in Neu-Delhi mit der Rückansicht einer Gandhi-Statue.
Im Land des berühmten Pazifisten Mahatma Gandhi: Die indischen Medien berichten regelmäßig von einem Teufelskreis von Hass und Gewalt. © Getty Images / Hindustan Times / Raj K Raj
Von Antje Stiebitz · 12.12.2022
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Politische Morde, Brutalität gegen unterprivilegierte Kasten und Frauen, aggressive Diskussionen im Fernsehen und im Parlament - in Indien scheint das Recht des Stärkeren zu gelten. Von Gandhis gewaltlosem Widerstand ist nicht mehr viel zu spüren.
Eine Diskussion im indischen Fernsehen mit typischem Verlauf. Zu Gast: die Sprecherin der Regierungspartei BJP Anila Singh und Sanjay Hedge, Anwalt am Obersten Gerichtshof Indiens.
“Wie können Sie sagen, dass dieses Land unsicher geworden ist? Schämen Sie sich!”, schimpft Anila Singh. “Ich sage, dass dies nicht das Land ist, in dem ich aufgewachsen bin und in dem ich leben möchte”, antwortet Sanjay Hedge. “Weil Sie mit einer Regierung aufgewachsen sind, die Beschwichtigungspolitik betrieben hat”, reagiert Anila Singh.
Damit läuft die Diskussion aus dem Ruder. Beide fallen sich ins Wort, der Erregungspegel steigt. Warum er Englisch und nicht Hindi spreche? Ob er so seinen Stolz auf die indische Kultur zeige? Fragt die BJP-Sprecherin. Eigentlich ist das Thema der Diskussion, die im indischen TV-Sender "India Today" ausgestrahlt wird, die Gyanvapi-Moschee in Varanasi. Eine Moschee, in der Überreste eines hinduistischen Tempels gefunden wurden.
Wer sich in Indien durch die Fernsehkanäle zappt, erlebt nicht selten solche schrillen, aggressiv anmutenden Diskussionen. Argumente spielen kaum eine Rolle, stattdessen regieren Wut, Beleidigung, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Und das nicht nur im Fernsehen, sondern auch auf der Straße, bei religiösen Events, in den sozialen Medien. Und im Parlament.

Handgreiflichkeiten im Parlament

Ein Video der News-Plattform "India Times". Zu sehen: der Plenarsaal des indischen Parlaments im September 2020. Abgeordnete, die von ihren Sitzen aufspringen. Andere – sie gehören der Opposition an – bilden Sprechchöre, strecken ihre Zeigefinger in die Luft. Sie protestieren gegen die neuen Bauerngesetze der Regierung, werfen ihr vor, beim Durchsetzen dieser Gesetze alle parlamentarischen Regeln zu missachten. Bücher fliegen durch die Luft, Mikrofone gehen zu Bruch und Kopien der neuen Bauerngesetze werden zerrissen.
Amar Patnaik kann sich an diesen Vorfall erinnern, denn er sitzt im Oberhaus des indischen Parlaments, allerdings nicht für die Regierungspartei BJP, sondern für die Biju Janata Dal Partei, die im Bundesstaat Odisha regiert. Er spielt den Vorgang herunter.
„Früher ist das viel häufiger passiert, aber nachdem das alles auch im Fernsehen und online gezeigt wurde, hat es erheblich nachgelassen. Ich möchte solche Vorfälle nicht rechtfertigen, aber das passiert inzwischen sehr selten. Und als Politiker kann ich sagen, dass die Bürger und vor allem die jungen Menschen – Indien ist ein sehr junges Land – Argumente, Debatten und Logik wollen. Sie lassen sich von Selbstdarstellung nicht mehr beeindrucken.“
Und doch: Die indischen Medien berichten regelmäßig von einem Teufelskreis von Hass und Gewalt, der nicht nur zwischen den verschiedenen politischen Lagern herrscht, sondern auch zwischen Religionsgemeinschaften und zwischen Männern und Frauen. Auch das Kastensystem spielt eine wichtige Rolle: die unterprivilegierten Dalit werden von den höheren Kasten oft drangsaliert. Das Land des berühmten Pazifisten Mahatma Gandhi ist weniger friedlich als gedacht.

Politische Gewalt hat in Westbengalen Tradition

Auf dem Weg zur Observer Research Foundation, kurz ORF, eine Denkfabrik im Zentrum Delhis. Niranjan Sahoo ist hier Politikwissenschaftler und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit politischer Gewalt in Indien, insbesondere in Westbengalen – einem Bundesstaat, der einerseits für Poesie, Literatur und Kunst bekannt ist, andererseits auch für die hohe Akzeptanz extremistischer Ideologien.
Die offizielle Statistik für politische Morde in Westbengalen, veröffentlicht vom indischen Innenministerium, liest sich so: 2019 kamen 72 Menschen zu Tode, es gab 1545 gewalttätige Vorfälle. 2020 waren es 57 Tote und 663 Vorfälle. Die Zahlen für das Jahr 2021 liegen bislang nur fragmentarisch vor.
Zahlreiche Männer protestieren unter der Führung von Naveen Jaihind gegen die brutalen Morde an Kaschmir-Hindus, Pandits, Soldaten, Angestellten und den Exodus von Hindus aus dem Kaschmir-Tal. Dabei recken sie Maschinengewehre vom Typ Ak-47 in die Luft und schwenken die indische Flagge.
Gewalt gibt es nicht nur zwischen den verschiedenen politischen Lagern, sondern auch zwischen Religionsgemeinschaften und zwischen Männern und Frauen.© Getty Images / Hindustan Times / Sonu Mehta
Für den Wissenschaftler Niranjan Sahoo steht fest, für die seit Jahrzehnten anhaltende Gewalt in Westbengalen gibt es vor allem einen Grund: „Die massive Ungleichheit zwischen dem städtischen und dem ländlichen Bengalen.“
Politische Morde, fährt Niranjan Sahoo fort, gebe es auch in anderen Bundesstaaten wie Uttar Pradesh oder Bihar. Aber dort würde die politische Gewalt zwischen Hindus und Muslimen oder zwischen den Kasten stattfinden. Westbengalen hingegen sei eine Besonderheit. Von hier aus sei nicht nur revolutionäre Gewalt gegen die britische Herrschaft ausgegangen, sondern er war ab 1967 auch das Epizentrum einer Bauernbewegung, die sich in ganz Indien ausbreitete: den Naxaliten.
„Die Bewegung der sogenannten Naxaliten war sehr gewalttätig und führte zu viel Blutvergießen und zu staatlicher Repression. Ein erheblicher Anteil der Bevölkerung unterstützte die Extremisten, weil sie glaubten, dass die Macht der Landbesitzer nur auf diese Weise gebrochen werden kann. Als die linken Parteien 1977 an die Macht kamen, kaperten sie diese Bewegung.“

Parteien können Gewalt nicht eindämmen

Als in Westbengalen nach 30 Jahren Herrschaft durch linke Parteien, die mit viel Gewalt verbunden war, 2011 die säkular-national Mitte-Links Trinamool-Partei an die Macht kam, hoffte man vergeblich, dass friedlichere Zeiten beginnen würden.
Politikwissenschaftler Niranjan Sahoo ist nach 15 Jahren Forschung überzeugt, dass der Unterschied zwischen Westbengalen und anderen indischen Bundesstaaten in der Rolle der Partei liege. Während sonst Koalitionen zwischen mehreren Parteien üblich seien, gebe es in Westbengalen immer nur eine Partei, die herrscht. 
„In Westbengalen hat die Partei – egal welche es ist – eine sehr starke Kontrolle über jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens, die Partei entscheidet alles für den Bundesstaat. Kontrolle und Gewalt liegen in deren Händen und sie duldet keinen Widerstand.“
Diese mächtige Position der herrschenden Partei, so Niranjan Sahoo, hänge unter anderem auch mit der jahrzehntelangen Freundschaft der Kommunistischen Partei Indiens zu der in China zusammen.
„Viele Führer der kommunitischen Partei Indiens hatten bereits seit der Zeit Maos regelmäßige Verbindungen mit China. Viele von ihnen waren totale Anhänger Maos und seiner Ideologie, vor allem, was die staatliche Kontrolle betrifft.“

Mord an Rapper politisch motiviert?

Frustration über die bestehenden Machtverhältnisse und Kritik daran gibt es aber nicht nur in Westbengalen, sondern indienweit. Eine dieser Stimmen kommt beispielsweise aus dem nordindischen Staat Punjab.
“Politiker machen vor den Wahlen viele Versprechen. Nach den Wahlen sind alle diese Versprechen vergessen. Ich weiß nicht, wo ihr Bewusstsein dann ist. Sie kennen keine Scham. Hier gilt eine Lüge als Tatsache, Menschen, die stehlen, nennt man Sozialarbeiter, und die, die rauben, tragen das Gewand der Wahrheit. Sie werden bald bestraft werden!”
Songzeilen des Rappers Sidhu Moose Wala, der Ende Mai im Bundesstaat Punjab erschossen wurde. Ihm wurde immer wieder vorgeworfen, Gewalt zu verherrlichen. Sein Mord ging wochenlang durch die Medien. Der Rapper Sidhu Moose Wala hatte zehn Millionen Anhänger, er war ein Star.
Kurz vor seinem Tod hatte er für die Congress-Partei kandidiert. Deshalb behaupteten zwei Congress-Politiker aus Punjab - Amarinder Singh Warring und Partap Singh Bajwa -, dass sein Mord politisch motiviert gewesen sei. Und forderten, dass die dortige Regierungspartei AAP zurücktreten solle. Angeblich soll es auch Verbindungen zwischen den Tätern und Lokalpolitikern geben.
Eine weibliche Abgeordnete des Delhi Pradesh Congress Committee wird beim Protest gegen die Ermordung des Sängers Sidhu Moose Wala aus dem Punjab von Polizeikräften festgehalten.
Eine weibliche Abgeordnete des Delhi Pradesh Congress Committee wird beim Protest gegen die Ermordung des Sängers Sidhu Moose Wala von Polizeikräften festgehalten - es gibt das hartnäckige Gerücht, der Mord sei politisch motiviert gewesen.© Getty Images / Hindustan Times / Sanchit Khanna
Das Gerücht eines politischen Mordes hält sich hartnäckig, aber offiziell gilt: „Es handelt sich nicht um politische Gewalt. Es war ein Fall von Rivalität zwischen verschiedenen Gruppen, und es ging um ökonomische Vorteile. Die Untersuchungen gehen weiter. Doch der Grund für die Tat, das ist belegt, liegt innerhalb seines sozialen und musikalischen Umfeldes: Es wurden alte Rechnungen beglichen.“

Opposition spricht vom Klima der Angst

Soweit der Politiker und Anwalt Amar Patnaik, der der im Bundesstaat Odisha regierenden Biju Janata Dal Partei angehört und für sie als Abgeordneter im Oberhaus des indischen Parlaments sitzt. Er weist auch die immer wieder vorgebrachten Anschuldigungen gegen die Regierung weit von sich, nach denen die Oppositionspolitiker eingeschüchtert werden: durch Razzien oder tagelange Befragungen werde ein Klima der Angst geschaffen, so der Vorwurf.
„Es gehört zu einem juristischen Prozess, dass man Fragen von Strafverfolgungsbehörden beantwortet. Damit beginnt so ein Prozess! Und er endet damit, dass die Gerichte entscheiden. Wenn es falsch war, ein bestimmtes Individuum festzunehmen, dann wird es vom Gericht wieder freigelassen.“
In einem Lied der NGO Jagori geht es um einen Dupatta, ein Tuch, das indische Frauen traditionell tragen, um Brust und Schultern zu bedecken. Der Dupatta begrenze das Leben einer Frau genauso wie es ein Zimmer tue, aus dem sie nicht herauskommt und das ihr keine Luft zum Atmen lasse. Die NGO Jagori – was übersetzt “erwachte Frau” heißt – arbeitet mit Frauen, die Gewalt erlebt haben.
„Sie suchen bei uns psychologische und soziale Beratung und Unterstützung. Wir vermitteln sie auch an weiterführende Stellen, eben was zur jeweiligen Situation der Frau am besten passt. Aber erst, nachdem wir ihr genau zugehört haben“, sagt Deepshika, die Leiterin des Jagori-Teams, das bei Gewalt eingreift.

Gewalt gegen Frauen

Die meisten Frauen rufen über die Hotline bei der Organisation an, erzählt sie, andere schreiben eine Mail oder kommen vorbei. Manche brauchen medizinische Hilfe – und diese Fälle würden dann gleich dokumentiert werden, damit die Polizei eingeschaltet werden kann.
„Hauptsache ist, dass die Frauen erkennen, dass sie Handlungsmacht haben, dass es ihr Leben ist, und dass sie dafür verantwortlich sind. Unsere Arbeit ist, ihnen Maßnahmen anzubieten, die ihnen Erleichterung bringen und Abhilfe schaffen. Aber die Frauen müssen selbst entscheiden, was sie tun.“
Die meisten Frauen erfahren Gewalt durch ihre Ehemänner, Lebenspartner, Eltern oder Schwiegereltern. Manchmal aber auch am Arbeitsplatz oder auf der Straße. Ob zu Hause oder im öffentlichen Raum – immer geht es um körperliche Gewalt, Belästigung oder Beschimpfungen. In manchen Fällen bekommen die Frauen von ihren Angehörigen oder ihrem Arbeitgeber auch kein Geld oder nichts zu essen.
Demonstration in Mumbai. Füße in Sandalen treten auf eine am Boden liegende Puppe mit einem Foto als Kopf, die einen Mann zeigt, der in Delhi seine Freundin Shraddha Walkar brutal ermordet haben soll.
Demonstration in Mumbai nach dem Tod von Shraddha Walkar, die von ihrem Freund brutal ermordert worden sein soll.© Getty Images / Hindustan Times / Vijay Bate
„Der Grund dafür, dass die Frauen vor allem häusliche Gewalt melden, liegt darin, dass sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung noch immer stark stigmatisiert sind. Sie sind mit sehr viel Scham verbunden. Es ist leichter, über die häusliche Gewalt zu berichten als über sexuelle Übergriffe. Auch wenn sie oft Teil der häuslichen Gewalt sind“, sagt Jushya, die Leiterin des Jagori-Forschungsteams. Deshalb sei es auch schwer, Statistiken über Vergewaltigungen zu finden.

Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand

Seit Jahren kämpften Frauen in Indien dafür, darunter auch Jagori, dass Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand anerkannt wird. Bisher ohne Erfolg. Denn wie beinahe überall auf der Welt, herrsche auch in Indien das Patriarchat, erklärt Jushya.
Das Thema Gewalt unterliegt einem Paradoxon: Auf der einen Seite ist es tabuisiert – es war schwer, Interviewpartner zu diesem Thema zu bekommen. Aber auf der anderen Seite gehört sichtbare Gewalt anscheinend zum Alltag und wird medial millionenfach konsumiert. „Hate Speech“ – also sprachliche Gewalt – ist dabei mit Abstand am häufigsten.

Hatespeech gegen Muslime

Ein Beispiel dafür ist ein im Internet kursierendes Video. Es zeigt den BJP-Politiker Parvesh Verma, der für die Regierungspartei im indischen Parlament sitzt. Bei einer Veranstaltung der hindu-nationalen Organisation VHP im Oktober hält er folgende Rede:
„Es gibt nur eine Lösung und das ist der totale Boykott. Kauft keine Waren mehr in ihren Läden. Sie öffnen Geschäfte, um Fleisch zu verkaufen. Wenn ihr ihnen den Kopf zurechtrücken wollt, dann boykottiert sie komplett. Hebt eure Hände, wenn ihr mit mir übereinstimmt und sprecht mir nach: Wir boykottieren sie! Wir geben ihnen keine Jobs!“

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Parvesh Verma nimmt bei seiner Rede das Wort “Muslime” nicht in den Mund, aber niemand zweifelt daran, dass er die muslimische Gemeinschaft meint. Er wurde angezeigt und die Polizei ermittelt gegen ihn. Der Oberste Gerichtshof Indiens hatte  die Polizei nach dem Vorfall ausdrücklich ermahnt, gegen Hatespeech vorzugehen. Denn bisher kommen die Brandstifter meistens straflos davon.
Wie gewalttätig ist die indische Gesellschaft? Und warum herrscht in dem Land – aus dem der gewaltlose Widerstand kommt – das Recht des Stärkeren? Andererseits: Warum sollte es in Indien weniger Gewalt geben als sonst auf der Welt? Das erhalte ich immer wieder als Gegenfrage.
Die Unterschiede zwischen den Religionen, den Kasten, das Nebeneinander von vorindustriellem und modernem Leben – all das lässt tiefe Gräben entstehen, und Wertvorstellungen, die sich widersprechen. Dazu der Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die ökonomische Unsicherheit. Und doch wächst überall, insbesondere in den urbanen Zentren, eine Generation heran, die sich für einen konstruktiven gesellschaftlichen Wandel einsetzt – der ohne Gewalt auskommt.
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