75 Jahre Unabhängigkeit

Das literarische Erbe der indischen Teilung

32:33 Minuten
Historisches Schwarzweißfoto von 1947: Flüchtlinge sitzen auf einem mit Möbeln beladenen LKW.
Als 1947 das Land in Indien und Pakistan geteilt wird, setzen große Flüchtlingsströme in beide Richtungen ein. © picture alliance / AP Images
Von Margarete Blümel · 22.07.2022
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Als Indien am 15. August 1947 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, kam es zu einer der größten Katastrophen in der Geschichte: Das Land wurde geteilt. Wie halten Autoren die Erinnerung daran wach?
Im Jahr 2015 riefen die Goethe-Institute aus dem indischen Kolkata, ehemals Kalkutta und aus Dhaka in Bangladesch, das Projekt „Inherited Memories“ ins Leben. Über die Dauer von fünf Monaten hinweg wurden zwanzig bengalische Frauen und Männer aus Indien und Bangladesch danach befragt, welche Rolle die Teilung Indiens heute in ihrem Leben spielt.

Eines der größten Dramen der Geschichte

Ein Mädchen erzählt: „Die Kinder vom Bruder meines Großvaters sind bei der Teilung Indiens im östlichen Teil des Landes geblieben, der sich später von Pakistan gelöst hat und zu Bangladesch geworden ist. Sie sind zwar meine Blutsverwandten, aber de facto Ausländer für uns, weil Bangladesch ein eigener Staat ist.“
Und ein Mann sagt: „Meine Eltern sind 1947, nach der Teilung Indiens, von Ost- nach Westbengalen geflohen. Die Verachtung, die ihnen damals entgegenschlug, etwa bei der Arbeitssuche, ist immer noch greifbar. Wir sind nun einmal „die aus Ostbengalen“.
Die Video-Aufzeichnungen der Gespräche mit Kindern und Enkeln derer, die 1947 eines der größten Dramen der Geschichte erlitten haben, sind im vergangenen April als Buch erschienen: “Inherited Memories -  Third Generation Perspectives on Partition in the East“.
Der Autor Nazes Afroz stammt selbst aus der Metropole Kolkata und hat ein genuines Interesse daran, die Erinnerung an 1947 wachzuhalten und zu reflektieren, wie er sagt: „Wenn Bengalen damals nicht geteilt worden wäre – wie wäre es für uns weitergegangen?  Ich weiß, diese Frage lässt sich nicht beantworten. Doch: Wenn wir nun am 15. August 75 Jahre Unabhängigkeit feiern, sollten wir auch darüber reden, was dem damals vorausgegangen ist und natürlich auch Revue passieren lassen, was danach geschah. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Am 15. August feiern wir zum 75. Mal Indiens Unabhängigkeit. Denn zugleich ist es doch auch so, dass das bengalische Volk genau dann seit 75 Jahren getrennt ist.“

Die Teilung Indiens

Mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft wurde der indische Subkontinent in zwei Staaten aufgeteilt – Indien und Pakistan. Mehr als zwölf Millionen Menschen machten sich auf die Flucht, um dorthin zu gelangen, wo sie sich ihrer religiösen Zugehörigkeit wegen am ehesten willkommen fühlten: die Muslime nach Pakistan, Sikhs und Hindus nach Indien. Einige Bundesstaaten traf es besonders hart: Bengalen etwa wurde in das indische Westbengalen und das pakistanische Ostbengalen aufgespalten. 1971 kam es zum sogenannten „Bangladeschkrieg“, der für die Bengalen eine weitere Teilung zur Folge hatte: Ost-Pakistan erklärte seine Unabhängigkeit und wurde zu Bangladesch.
Porträt von Nazes Afroz.
Der Autor Nazes Afroz findet, die Teilung Indiens komme im Kurrikulum des Landes zu wenig vor.© picture alliance / Pacific Press / Sukanta Pal
Nazes Afroz sagt dazu: „Ich habe mit Menschen gesprochen, die damals als Flüchtlinge gekommen sind und sich hier in Indien ein neues Leben aufgebaut haben. Ebenso aber auch mit Angehörigen der 3. Generation, jüngeren Leuten, die meist einen groben Überblick darüber haben, warum es 1947 zu der Teilung kam. Dieser Teil unserer Geschichte gehört hierzulande leider nicht zum Curriculum und wird nicht hinreichend vermittelt.“

Intoleranz und Spaltung

Das weiß auch ein Lehrer namens Garuda, der in Annie Zaidis „Anstiftung zum Mord“ die Geschichtsstunden der „Klasse 10-B“ daraufhin ausrichtet. In dem auch auf Deutsch erschienenen Roman der aus Südindien stammenden Autorin treten die Sehnsüchte, aber auch der Argwohn, mit dem Hindus und Muslime einander beäugen, pointiert zutage.

„Wer hat eben Plassey gesagt? Reden wir über Plassey. Yashika? Wo? In einer anderen Welt? Oh, tut mir leid. Ich vergaß, dass du letzte Woche ja gar nicht da warst. Wegen Krankheit. Natürlich. Sehr gut! Shiv, kannst du mir sagen, wo Plassey liegt? - In Bengalen, ja. Damals war es noch nicht  'Westbengalen'. Die Teilung kam ja erst später. Klasse 10-B, bitte notiert euch: Plassey ist im Osten und Panipat liegt in etwa in der westlichen Mitte des Landes.“ (aus „Anstiftung zum Mord“ von Annie Zaidie)
Porträt von Annie Zaidi bei einem Podiumsgespräch mit einem Mikrofon in der Hand.
In ihrem Roman "Anstifung zum Mord" thematisiert die südindische Autorin Annie Zaidi den Argwohn zwischen Hindus und Muslimen.© Getty Images / Hindustan Times / Raj K Raj
In „Anstiftung zum Mord“ wird das Leben zweier Familien beschrieben, die in einer südindischen Kleinstadt nahe beieinander leben. Die Mitglieder der einen Großfamilie sind Hindus, die der anderen Muslime. Mit Beginn der Prozesse, die der Teilung Indiens vorausgehen, wird ein Keil zwischen die beiden Familien getrieben. Intoleranz und Spaltung beginnen, das zuvor meist friedfertige Miteinander zu bestimmen. Die Menschen der südindischen Kleinstadt sehen sich zunehmend als Angehörige religiöser Gruppierungen – Hindus und Muslime, die sich voneinander abgrenzen müssen. Notfalls auch mit Gewalt. Der Gerichtslehrer versucht zu vermitteln. 

Der Riss geht durch Familien

Arif Anwar ist einer der wenigen Autoren, die ihre Sicht der Dinge mit Erfahrungen aus Bangladesch verknüpfen können. Dort hat Arif Anwar seine Kindheit und Jugend verbracht.  Heute lebt der 45-Jährige in der Nähe von Toronto, wo er Creative Writing lehrt. Einmal im Jahr hält er sich ein paar Wochen in Bangladesch auf. Er sagt: “Die Nachwehen der Teilung sind immer noch deutlich zu spüren. Bis heute gibt es diesen Riss, der sich durch die Familien zieht, wenn ein Teil der Angehörigen in Bangladesch lebt und der andere im indischen Westbengalen. Ähnlich verhält es sich mit den Menschen aus der Provinz Punjab, die aus einem indischen und einem pakistanischen Teil besteht. Das Ganze hat nach wie vor großen Einfluss auf unser aller Leben.“
Arif Anwars Familiensaga „The Storm“ wurde unter dem Titel „Kreise ziehen“ ins Deutsche übersetzt. Rahim, einer der bengalischen Protagonisten in dem Roman, muss sich angesichts der gewalttätigen Proteste im Vorfeld der Teilung entscheiden, ob er seine Heimat verlassen oder ob er bleiben will.

Eine Flutkatastrophe als Sinnbild für das Leid

Am Ende lebt er mit seiner Frau im zu Ostpakistan gehörenden Chittagong. Wenige Monate bevor der Provinzialstaat seine Unabhängigkeit erklärt und zu Bangladesch wird, trifft ein verheerender Sturm die Region. Für Rahim und seine Frau ist diese Naturkatastrophe ein Sinnbild für das Leid, das die Teilung ihnen zugefügt hat.
„Kilometerweit ist das Land überflutet. Die Leichen: Sie sind überall – um Bäume geschlungen, im Flachwasser treibend, begraben unter Trümmern, aus denen hier und da Gliedmaßen ragen. Zerbrochen, gebläht, verdreht und zerquetscht. Jeden Alters, jeder Form, jeden Geschlechts. Oft Seite an Seite mit dem Vieh. Der Sturm, so zeigt sich, ist ein grausamer Gleichmacher. Kalkutta und nun Chittagong. Der massenhafte Tod ist ihnen gefolgt, und nach so vielen Jahren hat er sie eingeholt.“ (aus „Kreise ziehen“ von Arif Anwar)
Auch die in Delhi lebende Historikerin und Autorin Aanchal Malhotra hat die Teilung Indiens mit ihren Auswirkungen diesseits und jenseits der indischen Grenze wiederholt thematisiert. In ihrem Buch „Remnants of a Separation“ porträtiert die 32-Jährige zwanzig Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen an das Leid an Gegenständen wie Küchenutensilien, Schals, Schmuckstücken oder Büchern festgemacht haben – an Überbleibseln, welche die Betroffenen damals in ihre neue Heimat retten konnten. Über ihr Buch sagt sie: "„Remnants of a Separation“ kam 2017 heraus, zum 70. Jahrestag der Teilung und Unabhängigkeit Indiens. Ich hatte mich vorher mehrmals gefragt, ob sich überhaupt jemand für das Thema interessieren würde. Wie oft hatte ich von älteren Menschen, mit denen ich über diese Zeit sprach, gehört: "Warum stochern Sie in dieser alten Wunde herum? Was geschehen ist, ist nun mal geschehen.""

Überstürzt das Haus verlassen

Genau das sagte auch Aanchal Malhotras Großvater, als die Enkelin ihn vor sieben Jahren fragte, welche Erinnerungen aus dieser Zeit ihm besonders häufig in den Sinn kämen. - Warum darüber reden? Es ändert ja nichts. Dann aber ließ er sich der Enkeltochter zuliebe doch darauf ein, seine Erfahrungen beizusteuern. Aanchal Malhotra hat ihrem Großvater ein Kapitel in „Remnants of a Separation“ gewidmet. Darin wird klar, wie überstürzt man mitten in der Nacht das Haus verließ, nachdem die Krawalle kurz vor der Teilung begonnen hatten. Die fünfköpfige Familie, so der Großvater, hatte nichts als eine Tasche mit dem Allernotwendigsten bei sich.
Aanchal Malhotra sagt: „Ich dachte immer, es wäre gut, wenn der Schmerz über die Teilung unseres Landes in meiner Generation ein Ende gefunden hätte, sagte meine Großmutter oft. Aber wenn ich dich jetzt anschaue, wie du dich in diese Arbeit reinkniest und was dir diese Erinnerungen bedeuten, dann wird mir klar: Der Schmerz ist nicht vorbei. Noch lange nicht.“

Das Trauma der Teilung  

Die Schriftstellerin und Gewinnerin des diesjährige Booker Prize Geetanjali Shree wohnt in New Delhi und ist im Juni 65 Jahre alt geworden. Kurz zuvor erhielt sie zusammen mit ihrer Übersetzerin Daisy Rockwell für ihren Roman „Tomb of Sand“ die renommierte Auszeichnung. In dem Buch, das noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, wird eine achtzigjährige Frau über dem Tod ihres Ehemanns depressiv. Es gelingt ihr jedoch, sich mit ihrem Schicksal zu versöhnen. Mehr noch – sie macht sich nach Pakistan auf, um dort das Trauma aufzuarbeiten, das ihr seit der Teilung Indiens zusetzt.
Porträt von Geetanjali Shree.
Für ihren auf Hindi verfassten Roman "Tomb of Sand" wurde Geetanjali Shree 2022 als erste indische Frau mit dem International Booker Prize ausgezeichnet.© imago images / ZUMA Wire / Amarjeet Kumar Singh
Von ihrer Tochter begleitet gelangt Geetanjali Shrees Protagonistin illegal nach Pakistan. Die beiden Frauen haben kein Visum, werden von der Polizei aufgegriffen und ins Gefängnis von Landi Kotal am Khyber Pass gebracht.
Die Publizistin Urvashi Butalia hat sich über den Erfolg dieses Romans sehr gefreut. Nicht zuletzt, weil es sich bei „Tomb of Sand“ um das erste aus dem Hindi ins Englische übersetzte Buch handelt, das mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden ist. Urvashi Butalia ist auch als Autorin tätig. Für ihr Werk „Geteiltes Schweigen“ etwa hat sie Menschen nach ihren Erfahrungen mit der Teilung Indiens befragt.
Die Gräueltaten, von denen diese erzählen, überwiegen. Aber es gibt auch Anzeichen von Menschlichkeit – Hindus, die Muslime vor ihren Glaubensbrüdern in Sicherheit bringen. Sikhs, die Flüchtlinge jedweder Religion aufnehmen und mit Kleidung und Nahrung versorgen. Menschen, die sich nicht von der Angst vor dem „Anderen“ einschüchtern lassen.
(DW)
Mitwirkende: Stephanie Eidt, Michael Rotschopf, Anne Rathsfeld und Ulrich Lipka
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal
Literaturhinweise:
- „Anstiftung zum Mord“ von Annie Zaidi, aus dem Englischen von Gerhard Bierwirth, Draupadi@Unionsverlag. 162 Seiten, 14,99 Euro
- „Kreise ziehen“ von  Arif Anwar, Klaus Wagenbach Verlag 2019, aus dem kanadischen Englisch von Nina Frey, Wagenbach Verlag, Berlin. 330 Seiten, 24 Euro
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