Independent-Film in China

Der radikale Blick des Wang Bing

Chinese director Wang Bing poses during the photo call for the Surprise Movie 'Le Fosse' (The Ditch) at the 67th annual Venice Film Festival in Venice, Italy, 06 September 2010. The movie is presented in the International competition 'Venezia 67' at the festival running from 01 to 11 September 2010
Einen unzensierten Blick auf die chinesische Gesellschaft werfen, das will der Filmemacher Wang Bing. © picture-alliance / dpa / Claudio Onorati
Von Britta Bürger · 15.07.2017
Wanderarbeiter, Eremiten, Todkranke. Schonungslos und in mitunter epischer Länge dokumentiert Wang Bing das Leben einzelner Menschen in China. Wegen der staatlichen Zensur kursieren Bings Low-Budget-Filme in China nur auf privaten DVDs.
Wang Bing ist einer der radikalsten unabhängigen Filmemacher Chinas. Bekannt für seinen harten Realismus, mit dem er das Publikum auch physisch herausfordert.
"15 hours" heißt sein 15 Stunden-Film über den Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter in einer kleinen Jeans-Schneiderei in Huzhou, ganz im Norden Chinas. In 18.000 kleinen Schneidereien wird hier überwiegend von Migranten Kleidung produziert. Wang Bing filmt die gesamte Tagesschicht.
"Ich entscheide nicht über die Länge dieses Filmes, sondern das drängt sich mir auf. Es sind 15 Stunden, weil diese Menschen 15 Stunden am Tag arbeiten. Dieses Projekt war nur deshalb möglich, weil es zum Beispiel in Galerien läuft, weil es in Kunsthäusern öffentlich gezeigt wird."
Und wirklich – nach 15 Stunden hat man das Gefühl, die Protagonisten zu kennen. Episch sind die Filme von Wang Bing – einzig und allein interessiert am Alltag von Einzelnen.

Unkontrollierte Geschichten

In "Three sisters" beobachtet er drei Schwestern – vier, sechs und zehn Jahre alt. Sie leben überwiegend allein auf 3.000 Metern Höhe in den Bergen der südwestlichen Provinz Yunnan. Die Mutter hat die Familie verlassen, der Vater muss als Wanderarbeiter in die Stadt. Wang Bing zeigt, wie die Mädchen ihr Überleben organisieren. Die Geschichte folgt keinem Drehbuch, entwickelt sich erst vor laufender Kamera.
Wang Bing nennt das "uncontrolled story" – unkontrollierte Geschichten. Stärker als in seinem jüngsten Film "Mrs. Fang" lässt sich dieses Konzept kaum ausreizen. Mit der Kamera begleitet er die letzten acht Tage im Leben einer an Alzheimer erkrankten Frau – wartet auf ihr Sterben.
"Zugegeben, es wird nur sehr wenige Menschen geben, die sich darauf einlassen werden und die so etwas sehen möchten. Natürlich ist es ein sehr schwieriger Film gewesen, um ihn zu machen. Es geht ja darum, dass jemand sterben wird und wie reagiert er auch körperlich darauf. Das wollte ich unbedingt zeigen."

Distanz und Nähe

Geduldig und empathisch beobachtet Wang Bing, was Menschen bereit sind, zu zeigen. Er ist ein Meister der archaischen Bilder. Drei Jahre lang hat er das Leben eines chinesischen Eremiten gefilmt "Man with no name". Dieser Mann hat sich vollständig von der Gesellschaft zurückgezogen. Wang Bing fragt ihn nicht nach seiner Vergangenheit. Seine Kamera hält respektvoll Distanz und kommt den Personen zugleich unglaublich nahe.
Indem er sich auf den Alltag einzelner Menschen konzentriert, meist auf Arbeiter und Außenseiter, kann er abseits des Marktes filmen – ohne Team, ohne Schauspieler, ohne staatliche Genehmigungen. Wang Bing bewegt sich konsequent außerhalb der Filmindustrie und akzeptiert, dass er mit dem Wenigen auskommen muss, das ihm zur Verfügung steht.
"Manchmal leihe ich mir das Geld für solche Projekte. Manchmal nehme ich auch Geld, das ich aus anderen Projekten habe, um meine Recherchen finanzieren zu können."

Protagonisten sind Verlierer des Wirtschaftsbooms

Und diese Recherchen dauern oftmals Jahre. In seiner neuneinhalb-Stunden-Trilogie "West of the Tracks" hat Wang Bing den Niedergang der chinesischen Schwerindustrie im Nordosten Chinas dokumentiert.
In dem 14-stündigen Epos "Crude Oil" zeigt er das Leben von Ölarbeitern in der inneren Mongolei. Menschen, die keinen Kontakt mehr zur Außenwelt haben – sie schuften, essen und schlafen in der Fabrik. Wang Bing porträtiert die Verlierer und Mitmacher im chinesischen Wirtschaftsboom.
"Mich interessiert das Alltagsleben dieser ganz normalen Menschen und ich möchte einfach nicht das wiederholen, was in den Medien eh schon geschrieben steht. Normalerweise gibt man diesen Menschen nicht das Recht, sich zu äußern – sie sind irgendwie stumm – sie haben keine Stimme. Und mit meiner Kamera gebe ich ihnen die Chance, dass sie sich endlich mal äußern dürfen."

Direkter Blick auf China

Wang Bing ist Tausende von Kilometern kreuz und quer durch China gereist. Durch zufällige Begegnungen bekommt er Zutritt zu einem Männerasyl, einer geschlossenen Anstalt für psychisch Kranke.
Er sucht nach Menschen, die in den 50er- und 60er-Jahren als Dissidenten verbannt wurden und überlebt haben. Und er zeigt Familien, die vor dem Bürgerkrieg in Myanmar nach China flüchten und für Dumpinglöhne auf Zuckerplantagen arbeiten.
Dabei versteht er sich selbst nicht als Dissident oder explizit politischer Filmemacher. Doch was, wenn nicht politisch, ist dieser unverstellte, sich vorwagende, direkte Blick auf das heutige China.

Die große Retrospektive über Wang Bang läuft im Rahmen der documenta – bis zum 17. September im Kasseler Gloria-Kino. Sein Film über die sterbende Mrs. Fang läuft im August auch beim Filmfestival in Locarno.

Die documenta widmet dem chinesischen Independet-Regisseur Wang Bing eine Retrospektive im Gloria-Kino in Kassel.
© Deutschlandfunk Kultur / Britta Bürger
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