Einrichtungsbezogene Impfpflicht

Die Debatte aus Sicht einer Hilfsbedürftigen

07:14 Minuten
Die Illustration zeigt im Zentrum eine aufgezogene Spritze, hinterlegt von einem roten Kreuz. Links und rechts davon sind Schattenrisse von Männern und Frauen zu sehen, die der Spritze den Rücken zukehren.
Die Impfpflicht in Einrichtungen hat viele Aspekte – auch die Perspektive einer Asperger-Patientin, die auf Unterstützung dringend angewiesen ist. © imago / Roy Scott
Von Stephanie Gebert · 07.03.2022
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Um vulnerable Menschen zu schützen, wurde die einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht beschlossen. Doch die Umsetzung sorgt für Debatten. Was denkt eine Frau darüber, die ohne die professionelle Hilfe anderer nicht zurechtkommen würde?
Um zu Katharina Kontakt aufzubauen, braucht es Geduld. Denn die 43-Jährige selbst ist zwar per E-Mail mit der Welt verbunden, aber telefonieren müssen andere für sie. Ein spontaner Anruf bedeutet zu großen Stress.
Katharina, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, hat hochfunktionalen Autismus, auch Asperger-Syndrom genannt. Sie hat also kaum kognitive Einschränkungen und ist auch sprachlich gewandt, aber der Kontakt zu Mitmenschen fällt ihr extrem schwer.

"Ich würde sonst nichts hinbekommen"

Als ich sie an diesem Vormittag in ihrer Wohnung in der Nähe von Gießen in Hessen besuche, ist auch eine junge Assistenzkraft mit dabei – sie hat Katharina beruhigt und meinen Besuch gut vorbereitet. Ohne die Assistenz ist ein Leben für Katharina nicht vorstellbar

Ich wäre tot. Und zwar nicht, weil ich mir was antun würde, sondern weil ich sonst nicht in der Lage wäre, etwas hinzubekommen. Und man weiß ja auch, dass es Leute gibt, die in der Wohnung liegen und vor sich hin verrotten, ohne dass es jemand mitbekommt. Hier guckt wenigstens zwei Mal die Woche jemand.

Katharina

Denn sonst lebt Katharina extrem zurückgezogen in ihrer Zweizimmerwohnung. Die Welt lässt sie nur über Radio, Fernsehen und Internet zu sich vordringen. Sie kann von zu Hause aus für eine Behindertenwerkstatt arbeiten, und zweimal pro Woche ist eine der drei Assistenzkräfte bei ihr – fürs gemeinsame Einkaufen, für Arztbesuche oder um einfach eine schöne Zeit zusammen zu verbringen.

Ein Gefühl der Sicherheit

„Einfach mal die Beine vertreten“, sagt Katharina. „Wenn ich hier den ganzen Tag sitze und am Arbeiten bin, da kriegt man ja auch ein ziemlich steifes Kreuz. Und um mal rauszukommen. Ich fühle mich dann wirklich sicher. Ich habe es wirklich auch alleine probiert – schon vor Jahren, als ich noch sicherer war. Zum Supermarkt gehen oder so. Aber sobald ich alleine dastehe, kriege ich die Panik.“
Diese Panik hat ihren Ursprung höchstwahrscheinlich in der Kindheit von Katharina. Sie leidet bis heute zusätzlich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie ist in den 80er-Jahren in der DDR groß geworden. Damals erkannte niemand Katharinas Behinderung. Sie wurde als „Schreibaby“ wahrgenommen, später als widerborstig und hat viel Ablehnung erfahren. Hinzu kommt die Armut, in der Katharina mit ihrer Familie lebte.
Erst nachdem beide Eltern tot sind und sie bereits Anfang 30 ist, diagnostiziert eine Psychologin den hochfunktionalen Autismus. Ein Test und ein psychiatrisches Gutachten bestätigen den Verdacht – eine Erleichterung, erinnert sich die gebürtige Thüringerin: „Jetzt denke ich: Hätte ich mal eher den Mund aufmachen sollen! – Aber das ist ja oft so: Man sagt dann nichts. Man denkt: Nein, ich habe nicht das Recht und vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm, oder ich bilde es mir nur ein. War nicht so schön.“

Verbindung zur Außenwelt

Heute ist Katharina dankbar, dass sie mit ihrer Schwerbehinderung ein Recht auf finanzielle Hilfe hat, die eine Bezahlung der Assistenzkräfte möglich macht. Die drei Frauen sind ihre Verbindung zur Außenwelt und das gegenseitige Vertrauen ist groß. Auch in der Pandemie.
Es war keine Frage, dass alle sich gegen Covid-19 impfen lassen, erzählt Katharina. Sie kann nicht verstehen, wie Assistenz- oder Pflegekräfte sich anders entscheiden: „Warum bin ich in einem sozialen Beruf, wenn ich nicht sozial sein möchte?“
Wer sich als Assistenz- oder Pflegekraft nicht impfen lasse, solle sich einen anderen Beruf suchen, findet Katharina. „Ich glaube nicht, dass diese Leute unbedingt dafür geeignet sind“, sagt sie. „Sie meinen es vielleicht sogar gut, aber sie sind nicht wirklich bereit, sich selbst nach hinten zu stellen, um den Schützlingen zu helfen. Und wenn man das nicht ist, sollte man nicht in sozialen Berufen arbeiten.“

Engpässe durch Ungeimpfte

Aber wer macht dann die Arbeit? Das fragt sich Ina Seguin-Hold vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter im hessischen Kassel, kurz: FAB. Im ambulanten Dienst beschäftigt der Verein rund 600 Assistenzkräfte. Anders als bei den Assistenzen von Katharina, die diese selbst angestellt hat, fungiert der FAB hier als Arbeitgeber. Er hat unter seinen Mitarbeitenden einige, die nicht geimpft sind und sich auch bislang nicht davon haben überzeugen lassen. Eine schwierige Situation für alle Beteiligten, sagt Seguin-Hold:

Für die Kunden ist es ganz wichtig, dass sie Mitarbeiter haben, die zuverlässig arbeiten. Da hat sich natürlich auch eine persönliche Ebene gebildet. Die sind auf die Assistenz angewiesen – teilweise bis zu 24 Stunden. Und Mitarbeiter, die langjährig dort arbeiten, lässt man natürlich auch jetzt nicht einfach so gehen.

Ina Seguin-Hold

Der FAB wolle niemanden entlassen, so Seguin-Hold weiter, die im Verein für die Qualitätssicherung zuständig ist. Aber wenn das Gesundheitsamt jetzt nach Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht die nicht-immunisierten Mitarbeitenden aus dem Verkehr ziehe, bedeute das eine Versorgungslücke im Assistenzdienst.

Ein Appell für Freiwilligkeit

Bislang behilft sich der Verein mit den üblichen Schutzmaßnahmen, die das gesamte Personal einzuhalten hat – egal, ob geimpft oder nicht. „Alle unsere Mitarbeiter arbeiten im direkten Kontakt mit FFP2-Masken und alle testen sich vor dem Dienstantritt“, sagt Seguin-Hold. „Das heißt: Nur Negativ-Getestete treten auch den Dienst an.“
Außerdem sei allen Mitarbeitenden ein Impfangebot gemacht worden und es seien viele Gespräche gelaufen, erzählt Seguin-Hold weiter. Zwingen könne sie aber niemanden. Das ist auch Katharina klar. Die 43-Jährige mit dem Asperger-Syndrom, würde gerne weiter auf Freiwilligkeit setzen.
„Ich bin gegen eine Impfpflicht, weil ich in der DDR groß geworden bin und auch körperlich dazu gezwungen wurde, mich impfen zu lassen“, sagt Katharina. „Ich hatte keine Angst vor der Impfung, sondern Angst vor der Nadel. Also, ich weiß einfach, was das mit einem macht, wenn man gezwungen wird.“

Zu wenig Anerkennung für soziale Berufe

Die Politik sei jetzt in diesem Dilemma, weil helfende Berufe in der gesamten Gesellschaft jahrelang nicht genügend wertgeschätzt wurden, davon ist Katharina überzeugt. Bekannt sei doch seit Jahren, dass ein Fachkräftemangel herrsche, der auf dem Rücken der Hilfebedürftigen ausgetragen werde.
„Und das liegt wiederum daran, dass die sozialen Berufe so verdammt schlecht bezahlt werden", sagt Katharina. "Da kommen mir fast die Tränen. Das sind die echten Berufe. Das sind unsere wahren Alltagshelden, und die müssen anständig bezahlt werden. Und wenn die anständig bezahlt werden, dann kommen auch mehr Leute in diesen Beruf. Und dann können wir bei den Impfgegnern sagen: Bitte, sucht euch was anderes.“
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