300 Jahre Kant

Humanist mit widersprüchlichem Erbe

Computergrafik: Porträt des Philosophen Immanuel Kant, nach einem Gemälde von Gottlieb Doebler (1872)
Moralphilosoph und Visionär einer globalen Friedensordnung: der Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) © imago / Zoonar / Heinz-Dieter Falkenstein
21.04.2024
Der Philosoph Immanuel Kant hat Ethik und Erkenntnistheorie erneuert und prägte das moderne Konzept universeller Menschenrechte. Aber Kant vertrat auch rassistische und antisemitische Positionen. Was bedeutet sein ambivalentes Erbe für uns heute?
Immanuel Kant hat die Philosophie seiner Zeit revolutioniert und prägt unser Welt- und Menschenbild damit bis heute. Als führender Denker der Aufklärung wies er die Autorität von Staat und Religion in ihre Schranken und ließ als Prüfstein der Erkenntnis und der Ethik nur die Vernunft als Maßstab gelten.

Ideal des mündigen Menschen

Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, wurde Kant im preußischen Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren. Sein Ideal des mündigen Menschen ist bis heute maßgeblich und seine Ideen zu Völkerrecht und Friedenspolitik scheinen angesichts eskalierender Konflikte aktueller denn je. Doch für rassistische, sexistische und antisemitische Positionen in seinen Werken wird Kant in jüngster Zeit kritisiert.
Der wirkmächtige Aufklärer Immanuel Kant hinterlässt uns ein ambivalentes Erbe. Wie finden wir heute den besten Umgang damit?

Mut zum freien Denken: Was ist Aufklärung?

Im Zentrum von Kants Philosophie steht die Emanzipation des Denkens von äußeren Zwängen. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit." Mit diesem viel zitierten Satz wendet er sich gegen die Deutungshoheit etablierter Institutionen wie Staat oder Kirche und setzt an ihre Stelle die Autorität der Vernunft.
Kants Aufsatz "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für freies Denken. Kant appelliert an die Leserinnen und Leser, jeder Bevormundung zu widerstehen und sich ein unabhängiges Urteil zu bilden.

Autoritäten hinterfragen

Darin liege nicht nur ein Freiheitsversprechen, sondern auch eine große Herausforderung, betont der Schriftsteller Daniel Kehlmann. "Der Mensch will sich ja immer nach Autoritäten richten, er will ja immer gesagt bekommen, was er denken soll. Sich wirklich zu orientieren zwischen den Autoritäten, die da sind, und der Pflicht, alles zu hinterfragen und selber zu denken, das ist nicht leicht."

Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Immanuel Kant: "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784)

Kant selbst ist durchaus bewusst, dass es Mut erfordert, auf den eigenen Verstand zu vertrauen. Nicht umsonst erklärt er das lateinische Sprichwort "Sapere aude!" (Wörtlich: Wage es, weise zu sein!) aus den Episteln des Horaz zum Wahlspruch der Aufklärung.
Kants Ideal des mündigen Individuums hat seine Strahlkraft bis heute nicht verloren: Es bildet die Basis des Zusammenlebens in modernen Demokratien.

Kants Erkenntnistheorie: Was kann ich wissen?

Vier grundlegende Fragen stecken für Immanuel Kant das Feld der Philosophie ab: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" So fragt Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" (1781). Später fasst er diese Fragen in einer vierten zusammen: "Was ist der Mensch?"
In seiner Erkenntnistheorie macht Kant die Vernunft selbst zum Untersuchungsgegenstand, um ihre Reichweite und ihre Grenzen auszuloten. Sein erstes Hauptwerk, die "Kritik der reinen Vernunft" (1781), gilt der Frage, was wir überhaupt erkennen können.

Kants kopernikanische Wende

Kant vollzieht in dieser Frage einen radikalen Perspektivwechsel. Seine Untersuchung zeigt, wie bestimmte Eigenschaften des menschlichen Verstandes unser Bild von der Welt mitprägen. Damit habe er in der Philosophiegeschichte eine völlig neue Richtung eingeschlagen, sagt der Frankfurter Philosoph Marcus Willaschek. Es ist Kants kopernikanische Wende des Denkens.
"Kant hat klar gemacht, dass jede Form von Wissen über die Welt bestimmte Bedingungen des erkennenden Subjekts voraussetzt, die wir an die erkannten Gegenstände herantragen", erklärt Willaschek. "Nach Kant sind das vor allem Raum und Zeit.“

Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann.

Immanuel Kant: "Kritik der reinen Vernunft" (1781)

Was wir erkennen können, hängt demnach von Anschauungsformen unseres Geistes ab, die dafür "a priori" einen Rahmen setzen. Jenseits dieses Rahmens, als "Ding an sich", können wir die Welt nicht erfassen.
Kant frage auch, ob wir durch bloßes Nachdenken etwas über die Welt herausfinden können, "zum Beispiel, ob wir beweisen können, dass Gott existiert", sagt Marcus Willaschek. In der "Kritik der reinen Vernunft" diskutiert Kant dieses Problem und kommt zu dem Schluss, dass ein Gottesbeweis prinzipiell unmöglich ist. 1827 setzte der Vatikan das Buch deshalb auf den Index.

Kants kategorischer Imperativ: Was soll ich tun?

Als Moralphilosoph hat Immanuel Kant in seinem zweiten Hauptwerk, der "Kritik der praktischen Vernunft" (1788), eine vernunftbasierte Pflichtethik entwickelt. Ihren Kern bildet der "kategorische Imperativ".
Diese moralische Richtschnur, die Kant in verschiedene einprägsame Formeln gefasst hat, erhebt die Achtung menschlicher Gleichheit zum moralischen Gesetz. Denn das Grundprinzip des kategorischen Imperativs besteht darin, dass er für alle gilt.

Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Immanuel Kant: "Kritik der praktischen Vernunft" (1788)

Kant geht in seinem Anspruch also über die sogenannte goldene Regel hinaus, die als gereimtes Sprichwort weit verbreitet ist: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Anders als dieser auf Gegenseitigkeit beruhende Grundsatz verlangt der kategorische Imperativ als entscheidendes Kriterium, dass die in Frage stehende Handlung verallgemeinerbar ist.

Ethik und Kolonialismus: War Kant ein Rassist?

In seiner Moralphilosophie tritt Kant dafür ein, dass alle Menschen gleich an Würde und an Rechten sind. Mit diesen Ideen wurde er zu einem zentralen Begründer des Universalismus. Umso verstörender wirkt es, dass er in einigen seiner Schriften auch rassistische, sexistische und antisemitische Positionen einnimmt. Wie geht das mit seinem Gleichheitsanspruch zusammen?
Tatsächlich habe Kant eine eigene Rassentheorie aufgestellt, erklärt die Philosophin Marina Martinez Mateo. Darin grenze er verschiedene Menschengruppen nach ihrer Hautfarbe oder Herkunft voneinander ab und schreibe ihnen auch eine unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit zum Vernunftgebrauch zu.

Weiß geprägtes Europa

Zwar beschreibe Kant das Vermögen, sich des "eigenen Verstandes zu bedienen", meist als universelles menschliches Merkmal, sagt Martinez Mateo. Andererseits gehe er offenbar davon aus, dass Menschen einen bestimmten historischen Prozess durchlaufen müssen, um diese Fähigkeit vollends zu entfalten.

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"Und dieser historische Prozess wird bei Kant von den bürgerlichen Gesellschaften Europas her gedacht", so Martinez Mateo. "Das heißt, man muss schon durch so ein männlich, bürgerlich, weiß geprägtes Europa hindurchgegangen sein, um das menschliche Vernunftpotenzial überhaupt zu realisieren." Nichtweiße Menschen oder Angehörige außereuropäischer Kulturen blieben auf diese Weise außen vor.
Erst spät habe Immanuel Kant zu einer "dann aber auch sehr radikalen und überzeugenden Kritik des Kolonialismus" gefunden, sagt der Philosoph Marcus Willaschek. Daher könne sich durchaus auf Kant berufen, wer die heutigen Folgen kolonialer Ausbeutung kritisiere. Ebenso wichtig sei es, aufzuarbeiten, wo Kant in einen Widerspruch zu den eigenen Idealen geriet, sagt die Philosophin Andrea Esser, die dazu an der Universität Jena forscht.
Dabei gehe es nicht um ein Tribunal für Denker der Vergangenheit, sondern um Selbstkritik mit Blick auf unsere Gegenwart. "Wir leben in einer Gesellschaft, die in einer rassistischen, sexistischen und antisemitischen Tradition steht. Und diese Tradition ist eben nicht vergangen, sondern sie ist nach wie vor präsent, und sie hat immer noch die Macht, uns in unserem Denken und Handeln zu prägen."

Weltfrieden: Taugt Kants Vision für heutige Krisen?

In seinem Spätwerk "Zum ewigen Frieden" (1795) entwirft Immanuel Kant das Konzept einer globalen Friedensordnung. Dabei geht es ihm nicht um eine abstrakte Utopie. Kant gibt konkrete Handlungsempfehlungen, wie der latente Kriegszustand zwischen den Staaten der Welt überwunden und ein dauerhafter Friede durch Verträge abgesichert werden könnte.
Tatsächlich standen Kants Ideen 1920 Pate bei der Gründung des "Völkerbundes" und prägen bis heute dessen Nachfolgeorganisation, die Vereinten Nationen. Wenn Kant allerdings sehen könnte, wie wenig die UN zur Lösung der gegenwärtigen Krisen beitragen kann, wäre er "sehr betrübt über den Zustand unserer Welt", meint der Berliner Philosoph und Menschenrechtsexperte Arnd Pollmann.

Globale Innenpolitik

"Wenn das, was Kant sich unter einem Völkerbund vorstellt, tatsächlich realisiert wäre und gut funktionieren würde, dann wäre dieser internationale Völkerbund in meinen Augen längst sowohl in die Ukraine als auch in den Gazastreifen einmarschiert, um das kriegerische Treiben und Sterben dort zu beenden", sagt Pollmann. Er plädiert dafür, die Vereinten Nationen zu einer "Konföderation für Weltinnenpolitik" weiterzuentwickeln.
Auch Kant lebte in unsicheren, kriegerischen Zeiten. Von ihm könnten wir lernen, "dass eine tragische weltpolitische Lage, wie wir sie heute vorfinden, kein Grund sein sollte, an dem Ziel einer föderalen Weltfriedensordnung zu zweifeln", sagt der Philosoph Marcus Willaschek. Kants Ideal eines "ewigen Friedens" sei vielleicht nie vollständig erreichbar, "aber es ist das Ziel, auf das wir hinarbeiten müssen und dem wir uns immer weiter annähern können".
Kant selbst forderte mit einem bescheidenen Appell dazu auf, sagt Daniel Kehlmann: "In seiner Schrift 'Zum ewigen Frieden' spricht er davon, dass man manchmal einfach nur die Saat ausbringen kann, die man selber nicht mehr ernten wird."

Lesetipps: Neue Bücher zu Immanuel Kant

  • Marcus Willaschek: "Kant. Die Revolution des Denkens"; Verlag C.H. Beck, München 2023, 352 Seiten, 28 €
  • Claudia Blöser: "Immanuel Kant. 100 Seiten"; Reclam Verlag, Stuttgart 2023, 100 Seiten, 10 €
  • Manfred Kühn: "Kant. Eine Biographie"; Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Einmalige Sonderausgabe. Verlag C.H. Beck, München 2024, 639 Seiten, 25 €
  • Uwe Rose: "Verliebt in die Metaphysik. Ein Tag im Leben Kants – ein philosophisches Porträt"; Parodos Verlag, Berlin 2023, 264 Seiten, 19,90 €
  • Wolfgang Schmale: "#ImmanuelKant. Kosmopolit digital im postkolonialen Zeitalter"; Mitteldeutscher Verlag, Leipzig 2024, 224 Seiten, 16 €
  • Jörg Hülsmann: "Kant. Vom Aufbruch der Gedanken. Eine Graphic Novel"; Knesebeck Verlag, München 2024, 96 Seiten, 24 €


fka
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