Imagewandel bei der "Kirche Jesu Christi"

Mormonen möchten modern werden

10:33 Minuten
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage
Mormonen-Kirche in Berlin-Dahlem © Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage
Von Stefanie Oswalt · 24.02.2019
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Kein Kaffee, kein Alkohol, kein Sex vor der Ehe: Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ und ihre strengen Regeln wurden unter dem Namen "Mormonen“ bekannt. Jetzt will sich die Kirche erneuern – aber an ihren Werten festhalten.
Berlin-Dahlem an einem Sonntag im Februar. Es ist erst 9 Uhr, aber hier im Foyer der Ziegelkirche an der Pacelli-Allee herrscht schon fröhliches Gewimmel: Männer und Jugendliche in Anzug, weißem Hemd und Krawatte, Frauen und Mädchen in festlichen Kleidern, viele Kinder jeden Alters. Gleich beginnt die Abendmahlsversammlung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage.

"Mormonen" war ursprünglich ein Spottname

Für Außenstehende ist nicht wahrzunehmen, dass hier etwas anders ist als früher. Junge Leute verteilen schon kurz nach Beginn der Zeremonie das Abendmahl. Die Gemeinde singt, kleine Kinder krakeelen, abwechselnd sprechen Männer und Frauen Gebete, und in der großen Predigt schließlich geht es um die drei großen L: "Gott lebt, Gott liebt uns, Gott leuchtet uns den Weg". Und doch ist hier einiges im Wandel.
"Wir erleben viel Veränderung", sagt Ralf Grünke. "Die vermutlich auffälligste Zäsur betrifft den Namen unserer Kirche. Von Anfang an wurden wir extern, landläufig als Mormonen bezeichnet. Die Bezeichnung Mormonen war ursprünglich ein Spottname. Unser christliches Selbstverständnis kommt darin nicht zum Ausdruck. Wir sind die Kirche Jesu Christi. Die Nachfolge Jesu Christi, Jesus als Erretter, als Heilsbringer steht im Mittelpunkt unseres Glaubens."

Nicht als christliche Kirche anerkannt

Grünke ist Pressesprecher der Kirche. Keine leichte Aufgabe, denn ihren Anhängern begegnet die Öffentlichkeit seit ihrer Gründung im amerikanischen Bundesstaat Utah im Jahre 1838 immer wieder mit Skepsis. Kritiker sehen sie wahlweise als Häretiker, gefährliche Fundamentalisten oder harmlose Spinner.
Und auch das Polygamie-Klischee hält sich hartnäckig. Dabei leben die Mormonen seit 1890, abgesehen von fundamentalistischen Splittergruppen in den USA, streng monogam. Allerdings erkennt der Ökumenische Rat, der mehr als 348 christliche Kirchen zusammenführt, die Glaubensgemeinschaft nicht als christlich an. Zu unterschiedlich sei das theologische Verständnis, sagt der evangelische Theologe Kai Funkschmidt.

Die Bibel ist nicht das Ein und Alles

"Die Mormonen taufen Menschen, die ausgetreten sind und die dann reuig wiederkommen, erneut", erläutert Funkschmidt. "Das heißt, da ist ein ganz anderes Verständnis der Taufe als bei uns. Die Taufe ist ein einmaliges Sakrament. Mormonen haben neben der Bibel weitere Offenbarungsschriften, drei an der Zahl. Hinzu kommt, dass nach mormonischer Vorstellung sich an und für sich jeder Mensch zu Gott entwickeln kann. Das heißt, die Gottesvorstellung der Mormonen ist ganz anders als unsere."
Als Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Kirche analysiert Funkschmidt die Glaubensvorstellungen und -praktiken religiöser Gemeinschaften. Ihm fällt auf, dass die Gemeinschaft seit einiger Zeit versuche, die christlichen Elemente der Religion zu betonen und die spezifischen Eigenheiten herunterzuspielen.

Statt Gottesdienst mehr Zeit für die Familie

Tatsächlich ist in der Kirche einiges in Bewegung: Pressesprecher Ralf Grünke berichtet von den Veränderungen, die das geistliche Oberhaupt der Kirche Russel M. Nelson in den letzten Monaten angekündigt oder bereits verfügt hat. Zum Beispiel die Kürzung der sonntäglichen Versammlungen von drei auf nunmehr zwei Stunden, um den Familien mehr Zeit zu geben, ihren Glauben privat auszuleben.
"Die Bedeutung davon ist, dass sich in den Köpfen Vieler Kirche in den Gemeindehäusern, in den Kirchen abspielt, unterstützt von den Familien", erklärt Ralf Grünke. "Präsident Nelson sagt: Nein, nein, wir müssen das ganz umgekehrt denken: Kirche spielt sich im Leben Einzelner und im Leben von Familien ab und wird unterstützt von den Erfahrungen in den Gemeinden und Kirchenhäusern."

Der Bischof ist Vater von drei Kindern

Nils Winkler, das geistliche Oberhaupt der Gemeinde in Dahlem, ergänzt: "Das Augenmerk heute liegt eher darin, dass wir uns umeinander kümmern, dass unser Verhältnis zueinander freundschaftlicher, brüderlicher, schwesterlicher wird, und dass wir vor allem mehr Zeit für unsere Familie haben, und wer keine Kinder hat, sich eben mehr öffnet, für andere da zu sein. Christus ähnlicher zu werden, um anderen zu dienen, Hoffnung zu machen, Zeit zu verbringen."
Nils Winkler ist Bauingenieur und Vater von drei Kindern. Er trägt den Titel Bischof – in der Kirche Christi der Heiligen der letzten Tage ein Laienamt, das er in einigen Jahren auch wieder abgeben wird. Winkler glaubt, dass die gegenwärtigen Neuerungen dazu beitragen, sich selbständiger und individueller mit dem Glauben auseinandersetzen.

Frauen entscheiden mit - aber nicht im Priesteramt

Immer noch gibt es aber die Gesprächskreise nach dem Gottesdienst, in denen getrennt nach Alter und Geschlecht über Glaubensfragen diskutiert wird. Über die Frage, ob Gemeindemitglieder dies nicht als diskriminierend empfinden, muss Winkler schmunzeln.
"Die Kirche legt großen Wert darauf, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind", sagt er. "Mir fehlt manchmal so ein bisschen die Gleichberechtigung des Mannes, weil die Frauen sehr dominant sind. Die Schwestern stehen mit Sicherheit nicht am Rande unserer Kirche, sondern sind mittendrin und auch in allen Entscheidungsgremien, auch in der Führung der Kirche beteiligt. Die Neuerungen sind mit den Schwestern abgestimmt und vielleicht auf ihre Initiative entstanden."

Geschlechterrollen wie sie Gott gefallen

Frauen dürfen zwar keine Priester werden – aber in der Weitergabe des Glaubens, so Winkler, spielen sie eine zentrale Rolle, weil religiöse Bildung und Praxis in der Familie stattfinde. Mit dem gesellschaftlichen Mainstream stimmen die klar definierten Rollenvorstellungen der Kirche nicht überein, doch das stört Gläubige wie Sara Fischer nicht. Die 40 Jährige ist Lehrerin für Geographie und Biologie und bezeichnet sich als Feministin.
"Ich denke, jeder der hier war, sieht, dass hier Frauen öffentlich Gebete sprechen", sagt Fischer. "Wir predigen, wir halten Ansprachen, ich bin Leiterin der Frauengruppe, und wir sitzen in jeglichen wichtigen Gremien. Aber ich denke, dass Gott uns unterschiedliche Rollen gegeben hat. Und das ist auch total natürlich."

Am Montag gehört Vati mir

Für Menschen mit großem Freiheitsdrang mag die Kirche Christi der Heiligen der letzten Tage zu viel soziale Kontrolle ausüben. Für Menschen mit Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit aber auch für Menschen mit Familiensinn könne sie attraktiv sein, sagt der Weltanschauungsbeauftragte Kai Funkschmidt:
"Sie haben sicherlich eine konservative Sexualität – die gehört in die Ehe, es gibt nichts außerhalb – aber sie haben eben auch ein sehr großes Familienethos. Das macht’s, glaub ich, auch für Frauen interessant, weil sie dort eben keine Männer finden, die mit 35 noch sagen 'hmmmm ich kann mich nicht binden', sondern dort haben sie Männer, von denen sie wissen, die möchten eine Familie gründen und auf die ist Verlass. Zu den mormonischen Pflichten eines Mannes gehört zum Beispiel auch, dass auf der ganzen Welt Montag abends Familientag ist."

Kein Kaffee, kein Alkohol, kein Sex ohne Trauschein

Kein Alkohol, kein Koffein, kein Nikotin, kein Sex vor der Ehe. Hat die Kirche mit ihren konservativen Regeln und Sexualvorstellungen ähnliche Probleme wie etwa die katholische Kirche, die in den vergangenen Jahren von Missbrauchsskandal zu Missbrauchsskandal taumelte?
"Das wird aber auch jeder Mormone Ihnen als erster bestätigen, dass sie nicht außerhalb dieser Welt sind und dass es bei ihnen auch Probleme gibt", sagt Kai Funkschmidt. "Ich vermute auch mal, dass es bei den Millionen Mormonen, die es auf der Welt gegeben hat, auch schon mal Missbrauch gegeben hat – es gibt aber jetzt keine Hinweise, dass dort jetzt systemisch Sachen viel problematischer wären als woanders."
"Überall, wo Menschen aufeinandertreffen, geschieht Schlimmes", gibt Ralf Grünke zu bedenken. "Wer meint, ihn beträfe das nicht, verweigert sich der Realität."

Wechsel der Ämter soll Missbrauch verhindern

Grünke spricht von einer Null-Toleranz-Haltung seiner Kirche, wenn es um Missbrauch geht. In der Vergangenheit seien allerdings nur Einzelfälle vorgekommen. Täter können ihre Mitgliedschaft in der Kirche verlieren. Zudem führt die Gemeinschaft Mitgliederakten, in denen seit 1995 vermerkt wird, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft auffällig geworden ist. Und schließlich, sagt Grünke, wirke auch die zeitlich befristete Vergabe der meisten Ämter bis auf die oberste Führungsebene vorbeugend: So könnten sich Machtstrukturen nicht verfestigen.
"Wir schulen unsere Amtsträger und stellen ihnen professionelle Hilfe zur Seite", sagt Grünke. "Bei Veranstaltungen mit jungen Leuten sind mehrere Erwachsene dabei. In unseren neueren Gebäuden finden sich in Türen zu Klassen- und Gruppenräumen Fenster, damit jemand jederzeit einen Blick hineinwerfen kann."

Im Zentrum steht das Mitgefühl

So wie an diesem Vormittag nach der allgemeinen Versammlung: Drei erwachsene Frauen üben mit einer Gruppe von Kleinkindern neue Lieder ein – die Türen stehen offen. Das Bild der offenen Türen steht aber auch für das, was viele sich von den Veränderungen erhoffen: sich mehr mit anderen Glaubensgemeinschaften auszutauschen.
"Ein wahrer Jünger Christi zu sein zeigt sich, glaube ich, nicht in einer Religionszugehörigkeit", sagt Nils Winkler. "Ob ich Protestant bin, Katholik bin, Baptist bin oder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage angehöre, es geht darum, wie mein Verhalten anderen Menschen gegenüber ist: Wie viel Mitgefühl habe ich? Wie helfe ich anderen Menschen, und wie gehe ich auch mit Feinden um?"
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