Im Ruhrgebiet ist Schicht im Schacht
14.09.2011
Im Ruhrpott redet man komisch und ist man rau, aber herzlich. Jörg Sundermeier und Markus Weckesser gehen in ihrem "Ruhrgebietsbuch" der Frage nach, was das Gebiet zwischen Hamm und Wesel und zwischen Dorsten und Hagen ausmacht.
"Wie spät ist es?" So reden Menschen anderswo. "Was hast Du Uhr auf Tasche?" So redet der kreative Ruhrpottmensch. Und BVB? Das ist keineswegs der "Ballspielverein Borussia 09 e. V. Dortmund" (den Bochumer VfL-Fans natürlich nicht kennen) – sondern eine Bratwurst von Bonde, "dem legendären Grill an heiliger Stätte, am Borsig-Platz". In Dortmund allerdings – einem Ort, den Bochumer natürlich auch nicht kennen. Was ist das Ruhrgebiet? Wer ist das Ruhrgebiet? Wie ist das Ruhrgebiet?
"Viele sprechen davon, wenige haben es gesehen, keiner hat es durchschaut", hat der Journalist Erik Reger geschrieben. Wer es durchschauen will, sollte das "Ruhrgebietsbuch" lesen. Lange ist Regers Verdikt her – als auch Joseph Roth den "Bewohnern des Rauchlands" ein Denkmal setzte: "der großen Rauchstadt, Gläubigen des Rauchs, Arbeitern des Rauchs, Kindern des Rauchs". Das war gegen Ende der Weimarer Republik, als Eingemeindungen und Stadtzusammenschlüsse besonders Fantasiebegabte von einer "Superstadt" träumen ließen. Und der Schriftsteller Heinrich Hauser das "amerikanische Tempo der Entwicklung" beschrieb, die "Zivilisierung der Ruhrstädte", die "zunehmende Kultivierung der Menschen des Reviers".
Tempi passati, Schicht im Schacht. Rauch gibt es nicht mehr, dafür Kultur so dicht wie nirgendwo sonst. "Wenn Sylt der Tod ist, war Bochum das Leben", schreibt Patrick Wildermann in dem Kapitel "Hamlet in Hamme", was ein Stadtteil von Bochum ist, – über den Tod des Schauspielers Ulrich Wildgruber, der bei Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum berühmt wurde. "Und dann ist er in den Zug gestiegen und hat sich in der Nordsee ersäuft. Ausgerechnet Sylt. Aber das passt schon. Wenn Sylt der Tod ist, war Bochum das Leben." Das ist der Ton der 26 Kapitel des Bandes: lakonisch, unverschnörkelt – einfach: echt. Ruhrpott eben.
Viel Geschichte ist dabei. Nicht nur der Blick in die Zwanziger des vorigen Jahrhunderts von Oliver M. Piecha oder die wunderbare kleine Erzählung "Die Schwarze Schmach" von Rudolf Lorenzen über seinen Kameraden Marcel Kröger, dessen Vater ein französisch-afrikanischer Besatzungssoldat im Bochum der Zwanziger war und der tragisch verunglückte. Historisch sind aber auch Erinnerungen an die Ruhrpottzigarette Overstolz oder Verzückungsschreie vor neuen Hochhäusern in den Fünfzigern. Und historisch ist Tante Beate, die Friseuse, die Schere und Kamm auspackt und stöhnt: "Du siehst ja aus wie ’n Bietel." Und halb historisch sind natürlich die Liebeserklärungen von denen, die nun ganz woanders leben.
"Wenn ich nach Nordrhein-Westfalen fahre und die ersten Fördertürme sehe, schlägt mein Herz immer noch höher", schreibt Sarah Schmidt. "In Essen habe ich jedes Mal am Bahnhof die Lektüre unterbrochen, den Walkmankopfhörer abgenommen", so Andreas Mand, "und aus dem Zugfenster gesehen. Meine Schule konnte man vom Gleis aus sehen". Und Christoph Ribbat beschreibt, wie sich ein Ruhrpöttler fühlt, wenn er durch Berlin-Moabit wandert, wo es eine Bochumer Straße und eine Essener Straße und – nun ja – auch eine Dortmunder Straße gibt: "Größte Bedenken gegen Berlin bestätigt. Im Ruhrgebiet pragmatisches Hinnehmen, hier aggressives Kämpfen wg. kleinster Details bzw. weltanschaulicher Grundfragen".
Kaum ein Kapitel könnte woanders spielen als zwischen Hamm und Duisburg – auch nicht der "Samstag im Regional Express" ("Gib mal endlich’n Bier!"), ein brillantes O-Ton-Protokoll von Marc-Stefan Andres und André Bosse. Nur einmal taucht in einem Kapitel Gesülze auf, wenn die Stadtsoziologin Regina Bormann zitiert wird: "Der Begriff einer ‚regionalen Identität’, einer Identität überhaupt, macht für die Städteregion Ruhr wenig Sinn. Er soll daher substituiert werden durch die Vorstellung einer Kultur der Differenz". So wird zwischen Duisburg und Hamm nicht geredet.
Ein Buch ist das fast, wie Hartmut El Kurdi über den Räuberhauptmann Korte, den "Robin Hood des Ruhrgebiets" schreibt: "als wären Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen. Oder als wäre der VFL Bochum endlich mal Deutscher Meister geworden …"
"Getz Schicht im Schacht mit die Rezension"? – "Abba sicher!"
Besprochen von Klaus Pokatzky
Jörg Sundermeier und Markus Weckesser (Hg.): "Ruhrgebietsbuch"
Verbrecher Verlag, Berlin 2011
224 Seiten, 12,00 Euro
"Viele sprechen davon, wenige haben es gesehen, keiner hat es durchschaut", hat der Journalist Erik Reger geschrieben. Wer es durchschauen will, sollte das "Ruhrgebietsbuch" lesen. Lange ist Regers Verdikt her – als auch Joseph Roth den "Bewohnern des Rauchlands" ein Denkmal setzte: "der großen Rauchstadt, Gläubigen des Rauchs, Arbeitern des Rauchs, Kindern des Rauchs". Das war gegen Ende der Weimarer Republik, als Eingemeindungen und Stadtzusammenschlüsse besonders Fantasiebegabte von einer "Superstadt" träumen ließen. Und der Schriftsteller Heinrich Hauser das "amerikanische Tempo der Entwicklung" beschrieb, die "Zivilisierung der Ruhrstädte", die "zunehmende Kultivierung der Menschen des Reviers".
Tempi passati, Schicht im Schacht. Rauch gibt es nicht mehr, dafür Kultur so dicht wie nirgendwo sonst. "Wenn Sylt der Tod ist, war Bochum das Leben", schreibt Patrick Wildermann in dem Kapitel "Hamlet in Hamme", was ein Stadtteil von Bochum ist, – über den Tod des Schauspielers Ulrich Wildgruber, der bei Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum berühmt wurde. "Und dann ist er in den Zug gestiegen und hat sich in der Nordsee ersäuft. Ausgerechnet Sylt. Aber das passt schon. Wenn Sylt der Tod ist, war Bochum das Leben." Das ist der Ton der 26 Kapitel des Bandes: lakonisch, unverschnörkelt – einfach: echt. Ruhrpott eben.
Viel Geschichte ist dabei. Nicht nur der Blick in die Zwanziger des vorigen Jahrhunderts von Oliver M. Piecha oder die wunderbare kleine Erzählung "Die Schwarze Schmach" von Rudolf Lorenzen über seinen Kameraden Marcel Kröger, dessen Vater ein französisch-afrikanischer Besatzungssoldat im Bochum der Zwanziger war und der tragisch verunglückte. Historisch sind aber auch Erinnerungen an die Ruhrpottzigarette Overstolz oder Verzückungsschreie vor neuen Hochhäusern in den Fünfzigern. Und historisch ist Tante Beate, die Friseuse, die Schere und Kamm auspackt und stöhnt: "Du siehst ja aus wie ’n Bietel." Und halb historisch sind natürlich die Liebeserklärungen von denen, die nun ganz woanders leben.
"Wenn ich nach Nordrhein-Westfalen fahre und die ersten Fördertürme sehe, schlägt mein Herz immer noch höher", schreibt Sarah Schmidt. "In Essen habe ich jedes Mal am Bahnhof die Lektüre unterbrochen, den Walkmankopfhörer abgenommen", so Andreas Mand, "und aus dem Zugfenster gesehen. Meine Schule konnte man vom Gleis aus sehen". Und Christoph Ribbat beschreibt, wie sich ein Ruhrpöttler fühlt, wenn er durch Berlin-Moabit wandert, wo es eine Bochumer Straße und eine Essener Straße und – nun ja – auch eine Dortmunder Straße gibt: "Größte Bedenken gegen Berlin bestätigt. Im Ruhrgebiet pragmatisches Hinnehmen, hier aggressives Kämpfen wg. kleinster Details bzw. weltanschaulicher Grundfragen".
Kaum ein Kapitel könnte woanders spielen als zwischen Hamm und Duisburg – auch nicht der "Samstag im Regional Express" ("Gib mal endlich’n Bier!"), ein brillantes O-Ton-Protokoll von Marc-Stefan Andres und André Bosse. Nur einmal taucht in einem Kapitel Gesülze auf, wenn die Stadtsoziologin Regina Bormann zitiert wird: "Der Begriff einer ‚regionalen Identität’, einer Identität überhaupt, macht für die Städteregion Ruhr wenig Sinn. Er soll daher substituiert werden durch die Vorstellung einer Kultur der Differenz". So wird zwischen Duisburg und Hamm nicht geredet.
Ein Buch ist das fast, wie Hartmut El Kurdi über den Räuberhauptmann Korte, den "Robin Hood des Ruhrgebiets" schreibt: "als wären Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen. Oder als wäre der VFL Bochum endlich mal Deutscher Meister geworden …"
"Getz Schicht im Schacht mit die Rezension"? – "Abba sicher!"
Besprochen von Klaus Pokatzky
Jörg Sundermeier und Markus Weckesser (Hg.): "Ruhrgebietsbuch"
Verbrecher Verlag, Berlin 2011
224 Seiten, 12,00 Euro